Amnesty International gilt als eine der weltweit größten Menschenrechtsorganisationen. Rund sieben Millionen Mitglieder setzen sich inzwischen weltweit für die gute Sache ein. Aber warum ist die Arbeit von Amnesty so erfolgreich und welche Rolle spielt Storytelling dabei?
1960 sitzt der 39-jährige Anwalt Peter Benenson in der Londoner U-Bahn, schlägt die Zeitung auf und liest von zwei portugiesischen Studenten, die verhaftet worden waren. Weil sie in Lissabon während der Diktatur auf die Freiheit angestoßen hatten. Ein halbes Jahr später schreibt Peter Benenson selbst einen Beitrag für die Zeitung „The Observer“. Agostino Neto, Constantin Noica, Antonio Amat, Ashton Jones, Patrick Duncan, Josef Beran, József Mindszenty – all diese Namen tauchen in seinem Artikel auf. Es handelt sich um Menschen, die im Gefängnis sitzen, weil ihre Regierungen ihre politischen oder religiösen Ansichten nicht tolerieren.
In seinem Appeal for Amnesty ruft Benenson alle Leser dazu auf, mit Schreiben öffentlich Druck auf die Regierungen auszuüben und von ihnen die Freilassung politischer Gefangener zu fordern. 30 große Zeitungen verschiedenster Länder drucken den Artikel ab. Aus der ursprünglich auf ein Jahr angelegte Kampagne wird eine Organisation, die sich bis heute weltweit für Menschenrechte einsetzt. Amnesty International schafft es Menschen, die an Gerechtigkeit glauben und sich für eine gerechtere Welt einsetzen wollen, zu verbinden. Ein Schlüsselkonzept: Storytelling.
„Ich will diesen Planeten verbessern!“ „Meine Kinder sollen mal in einer gerechteren Welt aufwachsen können!“ „Heute rette ich unsere Erde!“ Mit solchen und ähnlichen Vorsätzen fangen große Pläne an. Jedes Mal, wenn ich einen Blick in die Zeitung werfe, muss ich feststellen, dass die Welt vielleicht kein so rosaroter Fleck ist, wie sie samstagsmorgens vom Küchentisch aus zu sein scheint. Während einige schon beim Anblick all des Elends die Zeitung wieder zu schlagen, weckt es bei anderen den Wunsch, etwas zu ändern, die Welt ein bisschen besser zu machen. Aber wie viel ist ein bisschen? Wo soll man anfangen, wo aufhören? Was kann ich schon ausrichten? Wen sollte ich als einzelne Person retten können? Und bevor man es sich versieht, ist das Wochenende vorbei, genauso wie der Traum davon die Welt zu retten.
An dieser Stelle tritt Amnesty International auf den Plan. Von Beginn an setzte die Organisation nicht auf allgemeingültige Floskeln, sondern widmete sich ganz bewusst Einzelschicksalen. Um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, müssen Strukturen verändert werden. Aber gerade Schicksale von einzelnen Personen machen die Auswirkungen von Repressionen für viele erst erfahrbar. In diesem Sinne ist auch das Logo von Amnesty International zu verstehen. Die Kerze steht für ein Einzelschicksal, das beleuchtet wird. Indem man die Not von einem erfahrbar macht, soll sich die Situation für alle verbessern. Man bringt metaphorisch das Licht in die dunklen Teile der Welt.
So geht es nicht um irgendwelche Menschenrechtsverletzungen irgendwo in Burundi, ein Land, das viele wohl auf einer Landkarte nicht finden würden. Stattdessen steht die Geschichte von dem burundischen Menschenrechtsverteidiger Nestor Nibitanga im Mittelpunkt. Er war regionaler Beobachter im zentralen Osten des Landes für die führende burundische Hilfsorganisation. Ich kann mich direkt und unmittelbar für ihn einsetzen. Entweder, indem ich einen auf der Amnesty International Website vorgefertigten Brief versende oder auch einen eignen Text an den zuständigen Regierungsvertreter, Staatsanwalt oder Minister verfasse. Ich kann also einen Brief an jemanden schreiben, den ich nicht kenne, um ihn um die Freilassung einer Person zu bitten, die ich wahrscheinlich ebenfalls niemals kennenlernen werde. Durch emotionales Storytelling schafft Amnesty International hier eine Bindung zwischen Menschen, die sich nicht kennen. Man wird zum Verbündeten des Helden im Kampf für mehr Gerechtigkeit.
Jedes Jahr rund um den Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember initiiert Amnesty International einen Briefemarathon, in dessen Rahmen einigen Einzelfällen besondere Beachtung geschenkt wird. Auch im letzten Jahr war der Marathon sehr erfolgreich. Der tschadische Blogger Tadjadine Mahamat Babouri verließ im April 2018 nach mehr als 18 Monaten Haft das Gefängnis. Er war zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden, nachdem er auf Facebook die Regierung seines Landes kritisiert hatte. Während des Briefemarathons drückten mehr als 690.000 Menschen ihre Unterstützung aus.
Mehr als eineinhalb Million Menschen setzten sich außerdem für Hanan Badr el-Din ein. Ihr Ehemann verschwand im Juli 2013. Sie ist Mitbegründerin der Organisation Familienkoalition der Opfer des Verschwindenlassens und wurde im Mai 2017 auf der Suche nach ihrem Mann festgenommen. Die Anklage enthielt den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppierung. Im Gefängnis verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand rapide. Aufgrund der zahlreichen Briefe und der damit verbundenen internationalen Aufmerksamkeit, erhielt sie medizinische Hilfe. Amnesty International ermöglicht es, dass man selbst zum Helden für andere wird. Sie agieren dabei als Vermittler, die verschiedenste Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten zusammenbringen, mit dem Ziel, die Welt ein bisschen gerechter zu machen.
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