Schon mal etwas von der „Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer“ gehört? Nein, es ist kein vorwiegend aus Todesanzeigen bestehendes Lokalblatt aus Mecklenburg-Vorpommern. Die Zeitung des werten Herrn Hermann Bräss zählt zu den mutigsten und revolutionärsten Medien, die unsere Informationsgesellschaft je hervorbrachte. Vor mehr als 200 Jahren, zu Zeiten des Siegeszugs des gedruckten Wortes auf Pergament, rief Bräss seine Leser erstmals dazu auf, Meinungen und Kommentare zu aktuellen Geschehnissen in Form eines Briefes an die Redaktion zu senden. Der Leserbrief und mit ihm eine neue Form des öffentlichen Dialogs zwischen Informationsgeber und -nehmer erblickte das Licht der Welt. Eine Welt, in der sich seitdem so ziemlich alles verändert hat.
Seitdem du angefangen hast, diesen Text zu lesen, haben ungefähr zehn Millionen Menschen (absolut und völlig frei erfundene Zahl) einen Leserbrief an eine Zeitung, ein Unternehmen, eine Institution, einen Verein, eine Partei, eine NGO, ein Museum oder an sonst irgendetwas geschrieben. Es sind digitale Leserbriefe. Leserbriefe, Nur-Überflogen-Leser-Briefe, Nur-Die-Headline-Leser-Briefe, Gar-Nicht-Leser-Briefe, Davon-Hörer-Briefe – oft von erstaunlich verdorbener Natur. Die Absender müssen sie nicht länger mit Tinte auf Papier schreiben und einen Marsch in die Stadt unternehmen, um ihre selten frohe Botschaft zum Zeitgeschehen zu teilen.
Ein Kommentar auf Facebook, Twitter & Co. ist mit weniger Anstrengung verbunden. Das und die Tatsache, dass jeder Einzelne von ihnen zu jedem Thema direkt veröffentlicht wird, macht die Leserbriefe von heute etwas undifferenziert. Aus ihnen wird unter vielen Artikeln ein wütender Mob aus Meinungen und Gegenmeinungen – Kampf auf dem Schlachtfeld Social Media. Doch welch‘ tollkühne Held stellt sich einer solch‘ unberechenbaren Gefahr? Es ist der Community Manager – auf seinem Pferd.
Dass im Community Management mitunter prekäre Herausforderungen auf dort Beschäftigte warten, ist bereits in meinem Blogpost zum Thema Shitstorms zu erahnen. Vertritt jemand eine Brand an vorderster Front, sind Schwert und Schutzschild noch das Mindeste, das er gebrauchen kann. Ist Diskussionsgegenstand aber keine Kampagne oder süßer Wochenendgruß, sondern ein Artikel über die Europawahl, einen Krieg, Feminismus oder Klimawandel, werden schnippische Meinungsbekundungen schnell zu weitaus mehr.
Auch die großen Printmedien Deutschlands sehen sich in ihrem Social-Media-Auftritt tagtäglich mit unzähligen Kommentaren konfrontiert. Die Aufgaben des Community Managements bleiben hier bestehen: Fragen beantworten, Kritik bearbeiten und gegebenenfalls Content anpassen, Lob annehmen, Trolling ermahnen, kollektive Bedürfnisse erkennen. Das alles mit konsistenter Brand Voice, klarer Haltung und nachvollziehbarem Verhalten. Eine Aufgabe, der im Falle eines Online-Mediums ganz offensichtlich nur wahrhafte Helden gewachsen sind.
Welche Mission sehen Spiegel Online & Co. in ihrem Community Management abseits der Bewahrung einer offiziellen Netiquette? Welchen Stellenwert messen sie ihm in Zeiten hitziger Diskussionen, verrohter Sprache und Populismus im Netz zu? In einem Interview mit der t3n ließ die Spiegel Online Community Managerin Ayla Mayer hinter die Kulisse blicken und erklärte den wichtigsten Zweck ihrer Arbeit: „Diese (…) Attacken einzudämmen, um eine echte Diskussion möglich zu machen, das ist unser Ziel.“ Community Manager versuchen, den Austausch der Menschen unter einem Post zu dirigieren. Sie schaffen durch die Interaktivität einen permanenten Dialog. Was wäre Herr Bräss stolz auf sie!
Über die neue „Form des in zwei Richtungen funktionierenden Journalismus’“ berichtete auch schon Laura Oliver, Community Managerin vom The Guardian, in einem Interview mit Zeit Online. Sie erzählte aber nicht nur über die Chancen ihrer Arbeit. Es ging auch um das große „Wagnis“, dem sich das Team aus Reportern, Redakteuren und Community-Managern dabei stellen würde. Objektiv reagieren, mit wasserdichten Fakten, zu jedem noch so brisanten, sensiblen, polarisierenden Thema – jedes geschriebene Wort im Namen eines Mediums, dessen Integrität gewahrt bleiben muss – stille Helden eben.
Die Unterschiede zum Community Management von Unternehmen werden deutlich. Die wichtigste Aufgabe hingegen hier: Engagement schaffen. Nutzer werden zum Kommentieren noch proaktiver animiert. Brands können Witz und Schlagfertigkeit beweisen – für ein Medium, das objektive Berichterstattung und Glaubwürdigkeit anstrebt, heikel? Welchen hohen Branding-Faktor aber genau das haben kann, zeigte Die Welt von 2014 bis 2016 mit ihrem „Die Welt“-Praktikanten.
Die Redaktion reagierte ca. zwei Jahre lang auf Kommentare unter ihren Beiträgen mit lustigen, sarkastischen, teils bitterbösen Antworten. Im Angesicht der Gefahr, dass das mitunter Leser verprellen könnte, erklärte Die Welt einen fiktiven Praktikanten, der die hohen moralischen Werte der Redaktion offensichtlich nicht leben muss, dafür verantwortlich. Ein Riesenerfolg mit breitem Medienecho. Die, die darüber lachen können, lachen darüber. Trotz des Erfolges setzte die Facebook-Seite des infamosen Praktikanten am 2. Dezember 2016 den letzten Streich ab. Litt die Reputation als neutraler Informationsgeber dann doch zu sehr unter den schelmischen Kommentaren? Heldenhaft waren sicherlich einige davon, doch darf ein Held gemein sein? Bissige Kommentare sucht man bei der Welt heute zumindest vergebens.
Und doch stellen sich jeden Tag zahlreiche Community Manager und Managerinnen todesmutig, rundum die Uhr, auch am Wochenende, den vielen, ja auch rotzblöden Kommentaren, die auf sie eindonnern. Sie ermahnen den chauvinistischen Detlef, blockieren den rassistischen Walter, korrigieren die völlig ahnungslose Heike. Und sie empfehlen dem wütenden Mob wieder und wieder, den Beitrag doch bitte erst zu lesen, bevor rumgeblökt wird. Das alles tun sie still und heimlich. Dabei geht es keinesfalls nur um Detlef, Walter und Heike. Es geht um die Reichweite, die fremden-, frauen-, schwulen-, und andere lebensfeindliche Gedanken in unserer Welt haben. Kommentare von Menschen, die die Zusammenhänge unserer komplexen Welt nicht oder nur falsch verstehen. Auch Herr Bräss hätte seinen Ärger mit dem Community Management seiner Zeitung gehabt. Nur über eines hätte er sich im 18. Jahrhundert noch nicht aufgeregt: die Rechtschreibung.
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