Wenn das Handy vibriert, muss es nicht zwangsläufig die nervige Familiengruppe oder das „Guten Morgen“ vom besten Freund sein. Immer häufiger melden sich auch Marken, Unternehmen oder Medien via Direktnachricht zu Wort. Messenger als soziales Netzwerk werden daher nicht nur für den Kundenservice, sondern auch für immersives und auf Langfristigkeit angelegtes Storytelling ein immer interessanterer Kanal. Inspiration finden Marken dabei nicht nur bei anderen Unternehmen: auch im Journalismus finden sich gar preiswürdige Best Practices.
„Die Ereignisse im Nationaltheater wirken in mir nach. Gerade als ich fertig war und der Applaus und Bravo-Rufe den Raum füllten, ist plötzlich ein Mann auf mich zugesprungen. Er wurde sofort von den Umstehenden niedergerungen. Ich habe mich dann schützend vor ihn gestellt und gesagt: ‚Niemand rührt ihn an. Es kann nur ein Verführter sein.’ Dann habe ich ihn hinausbegleitet.“
Noch bevor ich morgens im Büro meinen Laptop gestartet habe, vibriert das Smartphone. Per WhatsApp erzählt Kurt Eisner von den Geschehnissen vom 13. Februar 1919. Der Politiker hält an diesem Tag eine Rede vor dem Nationaltheater in München und will dabei deutlich machen, dass „die beispiellose Hetze des Pressegesindels“ Abscheu und Hass gegen ihn verbreiten würde. Die Presselandschaft war zu dieser Zeit stark reaktionär geprägt und einige wenige Pressevertreter, auf die der Mann anspielt, verbreiteten Falschmeldungen mit antisemitischen und fremdenfeindlichen Hintergründen. Wer war dieser Kurt Eisner, werden nun wohl die meisten denken. Und warum kontaktiert er mich aus dem Jahre 1919, 95 Jahre bevor WhatsApp auf sämtlichen Smartphones Einzug hält, 100 Jahre nach seinem eigenen Tod?
Kurt Eisner, das stellt man bei einem Blick in die Geschichtsbücher schnell fest, ist ein Name, der vor allem in Bayern bekannt sein dürfte. Als Anführer der Novemberrevolution 1918 in München und erster Ministerpräsident von Bayern hat er den heutigen Freistaat nachhaltig geprägt. Wichtige Verdienste wie die Einführung der Pressefreiheit in Bayern nach Ende des Ersten Weltkrieges gehen auf den früheren Journalisten zurück. Das hundertjährige Jubiläum seines Todes hat den Bayerischen Rundfunk dazu bewegt, ein historisches Porträt der außergewöhnlichen Art zu initiieren. „Ich, Eisner!“ wurde nicht im Fernsehen gezeigt oder im Radio gespielt, sondern fand seinen Weg zu einer rapide wachsenden Abonnentenzahl per WhatsApp, Insta und Telegram. Storytelling per Messenger – dies war in diesem Ausmaß in der deutschen Presselandschaft eines der ersten Projekte. Dafür wurde der Bayerische Rundfunk mit dem Deutschen Digitalaward in Bronze ausgezeichnet.
Wir haben mit Matthias Leitner gesprochen. Als Autor und Initiator hat er „Ich, Eisner!“ maßgeblich mitgeprägt.
Sind Storytellingformate auf WhatsApp & Co nur für den Journalismus ein fruchtbares Terrain? Falsch, auch im Content Marketing wird das Storytelling per Messenger in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Was das Messenger Marketing angeht, stellte onlinemarketing.de schon im Januar fest, die Zukunft werde „wild“. Chatbots für den Kundenservice sind schon jetzt keine Besonderheit mehr und entwickeln sich allmählich zum Standard. Auch zur Informationsdistribution könnten sie der klassischen E-Mail eines Tages den Rang ablaufen. Vorbildcharakter hat dabei etwa der Messenger-Newsletter von Christian Lindner (FDP) zur Bundestagswahl 2017. Über diesen konnten ihn Wähler und Interessierte beim Wiedereinzug in den Bundestag begleiten. Ansonsten sind Newsmeldungen vor allem aus der Mediensparte bekannt: Ob jetzt.de, neon.de oder t3n – vor allem Medien mit einer jüngeren Zielgruppe versorgen uns nicht nur per Mail mit neuen Beiträgen, sondern gehen diesen neuen Weg der Content-Distribution.
Aktuelle Nachrichten in einer App, die man sowieso ständig benutzt – Von Storytelling kann jedoch erst dann die Rede sein, wenn die Mitteilungen einem Plot oder einer übergeordneten Idee folgen. Pioniere auf diesem Gebiet dürften – lange bevor Kurt Eisner auf den Smartphone Screens die Menschen in den Bann zog – ausgerechnet die Katholische Kirche sein. Schon 2015 erzählte das Bistum Essenüber WhatsApp die Ostergeschichte nach.
Neue Wege abseits der breitgetretenen Pfade hat auch die Bundeswehr eingeschlagen. Die – zum Teil umstrittenen – Recruiting-Kampagnen der Armee haben in der Vergangenheit schon mehrmals Innovation und Kreativität bewiesen. In dem Projekt „KSK – Kämpfe nie für Dich allein“,einer Art Nachfolgekampagne der erfolgreichen YouTube-Webserie „Die Rekruten“, konnten Interessierte dabei sein, wie Robert als Neuling zum Kommando Spezialkräfte (KSK) stößt und welche Abenteuer die Verpflichtung bei der Armee mit sich bringt. Die Filme und Nachrichten von Robert kommen aus Belize und erzählen von aufregenden Nächten und dem Teamgeist unter Kameraden. Von den Kampagnen der Bundeswehr und ihrer Angemessenheit mag man seine eigene Meinung entwickeln. Fest steht aber: Vom packenden, mitreißendem Storytelling können noch viele Marken etwas lernen.
Dass Dienstleistungen über Messenger-Dienste bei immer mehr Unternehmen fast schon zum Standard gehören, zeigt: die Relevanz dieser neuen Kanäle für Marketing wurde erkannt. Noch sind es nur einige wenige Marken, deren Nachrichten einer Story folgen. Die Vorteile, dass zukünftig auch andere Unternehmen dieser Praxis folgen, liegen auf der Hand: Messenger erlauben ein hohes Maß an Multimedialität über Text, Sprachnachrichten, Bilder und Videos. Auf kaum einem anderen Kanal werden Kunden und Follower zudem direkter und näher erreicht: bereits morgens beim Aufstehen, noch bevor der Laptop überhaupt gestartet wurde. Die Resonanz auf diese neue Form des Storytellings ist groß. Schnell lernt die Zielgruppe: Wenn morgens das Smartphone vibriert, muss es eben nicht die nervige Familiengruppe oder der beste Freund sein. Vielleicht wartet ja ein neues Kapitel in der Story der Lieblingsmarke.
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