Ich saß neulich in der M8 auf dem Weg ins Büro, als ich neben mir ein ungefähr 11- bis 14-jähriges Mädchen bei der Formulierung, Gestaltung und finalen Bearbeitung ihrer täglichen Guten-Morgen-Ihr-Lieben-Insta-Story beobachten durfte. Sie tat es mit solch Akribie und Hingabe, dass ich mich nicht einmal wunderte, warum sie an diesem Mittwochvormittag nicht in der Schule war.
Es ist 2019, meine Damen und Herren, und das harmlose Selfie mutierte auf vielen unserer Handys zu florierenden Selbstdarstellungs- und -Vermarktungsmaschinen. Und wieso auch nicht? Viele Menschen verdienen mit sich selbst und ein, zwei kostenlos heruntergeladenen Apps viel Geld. Aber nicht nur Influencer bauen mit Schnipseln aus ihrem Leben eine Brand. Das kleine Mädchen am Mittwoch – sie tut es auch! Immerhin hatte sie innerhalb einer knappen Viertelstunde ihre erste Kampagne des Tages getextet, designt und veröffentlicht – in der Hoffnung auf hohe Reichweite und Reaktion. ??
Wieso drängt sich der Vergleich zur Business-Welt so auf? Ach ja, stimmt! Weil Unternehmen im Jahr 2019 genau das gleiche tun – nur mit mehr Budget und KI und so. Dazu kommt: Ganz gleich ob Unternehmen oder Mensch – im Social Media werden die Aktivitäten aller Teilnehmer in die gleiche Form gegossen. Zwar hat nicht jeder die gleiche Stimme (Hier Beitrag bewerben), jedoch jeder dieselben Mittel. Und wenn das kleine Mädchen, das, ohne es zu wissen, immer öfters über die CI ihres Feeds nachdenkt, zur Brand wird, kann das doch auch umgekehrt funktionieren.
– immer und überall. Das gilt für die Formulierung einer Pressemitteilung, die interne Ankündigung eines neuen Kollegen, die Erklärungsversuche eines untreuen Ehemanns, die Produktion eines Claims – immer und überall. Was ein Unternehmen zu welchem Zeitpunkt, über welchen Kanal sagt, ist natürlich wichtig. Ein Großteil der strategischen Überlegungen sollte sich aber auf das „Wie?“ beziehen. Die Brand Voice muss in sämtlichen Parametern (Tonalität, Sprache, Zweck, Charakter) ebenso konkret wie die Umsatzziele bis Q4 festgehalten sein. Findet genau das erfolgreich statt, wird aus einem Unternehmen eine Brand, deren Charakter wir in Kampagnen immer wiedererkennen können. „Ach, die BVG schon wieder!“ oder „Uh, typisch Apple!“ sind Sätze, die sich Marken hart arbeitet haben.
Nun registrieren sich also Firmen auf diversen Social-Media-Kanälen und begeben sich damit in zunächst gefährliches Terrain. Auf Facebook gibt es keine Wolkenkratzer oder schicke Büros, auf Instagram keine Krawatten und Chauffeure. Nichts trennt die Businesswelt vom niederen Konsumentenvolk. Sie stehen sich Bildschirm an Bildschirm gegenüber, bereit zum Dialog. Selbst ein Konzern wie Nestlé mit einem Jahresumsatz von über 90 Milliarden CHF muss Kommentare von Gisela Knobbe, Heilpädagogin aus Wolfenbüttel, fürchten – haben diese nur genug Reichweite und Relevanz. Nestlé muss antworten und zwar genauso, wie Gisela es tat – mit einem kurzen Kommentar. Nur selten muss ein Unternehmen in der realen Welt seinen Konsumenten so auf Augenhöhe begegnen. Gehörst du zu eben Nestlé oder gar schlimmer zur Deutschen Bahn wird dein Profil und Leben schnell zum Kriegsschauplatz. Glücklich schätzen können sich hier die, die eine konsistente Brand Voice und ein umfassendes Wording haben. Und genau hier befindet sich die große Chance.
Smoothie-Witzbold innocent gehört zu jenen Marken, die ihre Brand Voice, in diesem Fall ein gesundheitsliebender, aber niemals gängelnder Obst-Narr, definitiv gefunden haben. Das Verhalten in den turbulenten Kommentarspalten dementsprechend: innocent scherzt, albert herum, fragt Ina nach ‘nem Waffelrezept, sucht nach den lustigsten Kaffeetassen und auch bei zunächst ernst gestellten Fragen, die schlichte Produktinfos betreffen, bleibt innocent seiner lustigen Natur treu. Der Brand-Mensch und die Mensch-Brand sind glücklich und zufrieden, es wird gelikt, Engagement ist da, kurzum: es brand-menschelt.
Doch dann: innocent launcht einen neuen Drink, ein Gazpacho – in einer PET-Flasche und dann auch noch ohne Pfand. „Pfui“, denken sich einige und verlangen wütend Antwort. Das Unternehmen nutzt die Möglichkeit, seinen Kritikern zu antworten, und erklärt objektiv, aber aufrichtig, wieso diese Entscheidung so getroffen wurde (nach eigenen Angaben Nachhaltigkeit von Glasflaschen sogar schlechter) und noch mehr: Sie stellen auch gleich alle internen Bemühungen zur künftigen Nachhaltigkeit des Vertriebs vor. Ein beiläufiger Austausch? Nein! Das Unternehmen betreibt öffentliches Beschwerdemanagement. Und die Brand Voice? Sie hilft, die Message des Unternehmens noch eindringlicher und authentischer zu transportieren.
Unternehmen können im Community Management mit klar definierter Brand Voice also eine einzigartige, im Anschein sogar persönliche Beziehung zu ihren Konsumenten aufbauen. Der Besuch von Unternehmensseiten auf Facebook, Instagram & Co. zeigt, dass diese Chance in ganz unterschiedlichem Ausmaß erkannt und genutzt wird. Es hat ja auch niemand gesagt, dass es leicht ist! Ein Kommentar kann online leichter gelöscht werden als eine Pressemitteilung. Dennoch bleibt es externe Kommunikation, die das Unternehmen zwar im Kleinen, dafür hundertfach und mit direkter Ansprache repräsentiert. Der Brand-Mensch und seine Stimme müssen definiert werden und noch mutiger mit der Community sprechen. Er muss auch gar nicht lustig sein. Eine Umweltorganisation kann ermutigen, eine Fitnesskette motivieren, eine Beauty-Marke schmeicheln – die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Da kann das Finden der eigenen Brand Voice schon etwas dauern – und das wiederum weiß auch Mädchen vom Mittwoch.
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