Interaktives Storytelling: Die Abenteuer eines digitalen Puppenspielers
Endlich Feierabend. Schnell nach Hause, die Pizza in den Ofen, Jogginghose an und ab aufs Sofa. Du sinkst in die weichen Kissen und schaltest Netflix ein. Schon auf der Arbeit hast du von der neuen interaktiven Serie gehört. Deine Kollegen waren ganz begeistert von diesem ungewöhnlichen Format. Also steht dein Abendplan. Nach dem Vorspann geht es direkt los. Du musst per Knopfdruck Entscheidungen treffen. Wird der Hauptcharakter der Serie nun auf die Demo gehen oder wirst du ihn ohne Gnade von seinem Erzfeind erdolchen lassen? Es ist letztendlich deine Wahl. Dein plötzliches Abenteuer!
Im Mittelpunkt interaktiver Filme und Serien steht der Betrachter, der zum Puppenspieler wird, indem er die Hauptfigur steuert und mit ihr kommuniziert.
Serienautor per Knopfdruck
Paradebeispiel für das, was den Fan cineastischer Spannung in naher Zukunft mit Sicherheit noch öfter beschäftigen wird, ist Bandersnatch. Ein interaktiver Film der britischen Serie Black Mirror von David Sale, die am 28. Dezember 2018 auf Netflix veröffentlicht wurde. Der Zuschauer trifft die Entscheidung für den Hauptdarsteller, einen jungen Programmierer, der 1984 einen Fantasy-Roman in ein Videospiel adaptieren soll. Die unterschiedlichen Auswahlmöglichkeiten führen zu zahlreichen Enden. Das Angebot, direkt in die Handlung einzugreifen, macht die Serie zu einem interaktiven Hybrid aus Film und Computerspiel. Insgesamt fünf Stunden Filmmaterial sind in 250 Kapitel unterteilt, versteckt hinter der Wahl des Zuschauers.
Abschalten geht nicht!
Von Buchreihen über Videospiele bis hin zu TV-Produktionen: Herr des eigenen Sofa-Schicksals kann nun jeder werden. Vor allem für Kinder sei diese Option eine gelungene Abwechslung, lassen Kritiker verlauten. Für Erwachsene auch? Hinter dem Format versteckt sich ein enormer Produktionsaufwand. Bei Bandersnatch dauert ein Durchlauf 90 Minuten. Insgesamt gibt es fünf Stunden Bildmaterial mit 15 unterschiedlichen Enden. Wenn der Zuschauer hier also alles sehen möchte, ist er einige Stunden beschäftigt. Was beim Schauen auffällt: Es ist egal welche Entscheidung getroffen wird. Die Charakterentwicklung der einzelnen Schauspieler ist eher schwach. Das interaktive Erlebnis entpuppt sich als Videospiel und dient weniger zum Abschalten. Zudem ist das Format noch nicht technisch ausgereift, hakt an der ein oder anderen Stelle und funktioniert nicht auf jedem Endgerät. Andererseits macht uns diese Form des Geschichtenerzählens auch wieder wach. In Zeiten, in denen vieles „mal eben so nebenher“ gemacht wird, fordern interaktive Formate auf, sich auch wirklich mit der Story zu befassen.
Das Verlangen nach interaktiver Versuchung
Auch wenn es keine klare „Entscheidungsgrundlage“ gibt, um zwischen linearem und interaktivem Storytelling zu wählen. Die grundlegende Frage, die sich für Produzenten stellt, ist: „Wird meine Geschichte durch die direkte Ansprache des Publikums einen größeren Einfluss haben?“ Multimediale Filmkonzepte sind vor allem ein Wettbewerbsvorteil für Netflix. Sowohl Disney und Warner Bros. Entertainment starten mit eigenen Streaming-Diensten und auch Amazon und Sky stehen Netflix in nichts mehr nach. Für den amerikanischen Riesen gilt es, sich mit neuen Formaten zu brüsten. Auch für die zukünftige Kinowelt werden diese Formen der Darstellung angedacht. So äußerte sich 20th Century Fox bereits in 2018, dass Produktionen dieser Art geplant seien.
TV-Spaß mit Data Mining und Product-Placement-Garantie
Während wir uns tiefer und tiefer ins Abenteuer stürzen, hat Netflix einen weiteren wertvollen Datenschatz über uns sammeln können. In dem wir zum Beispiel den Hauptcharakter der Serie Kelloggs Frosties, anstelle der Reese‘s Puffs von General Mill’s, zum Frühstück essen lassen, geben wir wertvolle Informationen über unseren Geschmack preis. Entscheidungen für Produkte werden intuitiv getroffen und geben Hinweise zu unserem Kaufverhalten. So kann Netflix natürlich brauchbares Wissen über uns verkaufen. Aber auch Serien und Filme produzieren, die ganz individuelle Zielgruppen und Geschmäcker treffen.
Serienhits mit Erlebnischarakter
Geschichten sollen nicht nur unterhalten. Sie müssen die Möglichkeit bieten, in eine neue Welt einzutauchen und Teil davon zu werden. Sie sollten spürbare Erlebnisse sein. Mittlerweile gibt es zahlreiche Formen des interaktiven Storytellings. Angefangen beim Transmedia Storytelling, Virtual Reality, Theater bis hin zu Museen mit Erlebnischarakter oder ganze Bücherreihen. Diese Form des Geschichtenerzählens ist somit tief in unserer kulturellen DNA verwurzelt. Sie bietet oftmals eine bessere Alternative, um die Realität darzustellen und einen echten Dialog mit einem von Informationen überfluteten Publikum zu führen. Die großen Produzenten haben die nächsten Abenteuer bereits in der Pipeline. Es wird spannend mit dabei zu sein, wenn wir, die Zuschauer, in Zukunft immer häufiger Autor unserer Lieblingsserie sein werden.
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