Mythen und Legenden in der Türkei sind geprägt von den vielen verschiedenen Völkern und Nomadenstämmen, die immer weiter nach Westen und Süden wanderten und sich in der heutigen Türkei niederließen. Manche dieser türkischen Geschichten sind bereits mehrere Tausend Jahre alt und Teil des Tengrismus, dem alttürkischen Glauben. So gibt es auch regional große Unterschiede: Im Frühling wird beispielsweise im Heimatdorf meines Freundes an der Ägäis die Sage von Narziss erzählt, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt in einen Teich fiel und ertrank. Rundherum erblühten die Narzissen und blühen noch heute jeden Frühling in diesem Dorf in der Nähe von Izmir. Dies wird meist der griechischen Mythologie zugeordnet, zeigt jedoch, wie die Völker und Geschichten in der Region miteinander verschmolzen sind. Aber das wichtigste zuerst:
Wer einmal bei einer türkischen Familie zu Gast war, weiß, dass man hier regelrecht gemästet wird – was man bei all dem selbstgekochten Essen aber gern über sich ergehen lässt. Als ich vor kurzem zu einer Freundin aus Istanbul sagte, man kann ja ruhig ablehnen, meinte sie nur „Aber sie sind dann schon traurig“. Man isst also. Nach Meze, Salaten, Suppen, Bohnen, Fisch und Fleisch gibt es sirupsüßes Gebäck, Mokka und im Sommer frisches Obst. Da das Essen einen so wichtigen Stellenwert in der Kultur einnimmt, haben viele Gerichte Namen, die ganze türkische Geschichten aus den Zeiten des Osmanischen Reiches erzählen. Denn hier verbanden sich die Kochtraditionen des Mittelmeeres, Persiens und der arabisch-islamischen Kultur.
So geht es bei den mit Paprika, Tomaten und Zwiebeln gefüllten Auberginen „Imam Bayildi“ – Der Imam fiel in Ohnmacht – um die Frau eines Imams, die eines Tages all ihre Nachbarn zum Essen einlud. Für den Imam blieben nur noch die gefüllten Auberginen. Der Legende nach sah er also die leergefegte Speisekammer und fiel in Ohnmacht. Das Ganze gibt es auch mit Hackfleisch und heißt dann Karni Yarik, also aufgeschlitzter Bauch – aber das ist (hoffentlich) eine andere Geschichte. Ein Lammragout auf Auberginenpüree heißt hingegen „Sultans Entzücken“ oder „dem Sultan gefällt’s“.
Türkische Köche träumen dabei wohl auch gern von schönen Frauen. So gibt es zum Nachtisch in Sirup getränkte und mit Walnüssen gefüllte Blätterteigtäschchen, die „Lippen von Dilber“ heißen. Dilber ist ein persischer und kurdischer Frauenname, der „die Schöne“ bedeutet. Schaut man sich das Gebäck genauer an, ist man jedoch nicht mehr sicher, wovon der Koch genau geträumt hat. Und das gebackene oder frittierte Gebäck Hanim Göbegi, also Frauenbauch, erinnert dabei wirklich an einen Bauchnabel. Doch nicht nur bei süßen Desserts, auch bei Köfte kamen Sultane ins Schwärmen und nannten die länglichen, braungebrannten Bouletten Kadin Budu Köftesi – Frauenschenkel-Köfte.
Mit den türkisch sprechenden Nomadenstämmen kam auch die Teppichknüpferei in die heutige Türkei. Ein Kunsthandwerk, das auch der bildlichen Überlieferung von Erzählungen über Generationen hinweg diente. So vermitteln Farben, Motive und Muster immer eine Botschaft.
Auf vielen Teppichen findet sich der Lebensbaum, der für fruchtbare Natur und das Leben selbst steht. Der Granatapfel oder die Hand an der Hüfte symbolisieren hingegen Wohlstand, Fruchtbarkeit und Überfluss. Aber auch Symbole wie das Dreieck sind bewusst ausgewählt und stehen für die Heirat. Haken dienen als Schutz vor dem bösen Blick, der wiederum mit der Farbe Gelb dargestellt wird. Um den Lebensbaum herum sind häufig Tiermotive geknüpft, wie der Kranichzug, der Zusammengehörigkeit, und der Adler, der Macht bedeutet. Zwischen diesen Mustern und Symbolen ranken zudem Blumen, wie Tulpen oder Nelkenblüten.
Die Wolle, Baumwolle oder Seide der Teppiche wird traditionell mit Pflanzen-, Tier- und anderen Naturmaterialen gefärbt. Blau steht dabei für die Hoffnung, Rot für Freundschaft, Grün symbolisiert die Trennung und Gelb den bösen Blick. Je mehr Knoten ein Teppich pro Quadratmeter hat, desto wertvoller ist er. Damit dauert das Knüpfen eines einzigen Teppichs Monate bis Jahre – insbesondere bei Teppichen aus Seide, die aus mehr als 100 Knoten pro Quadratzentimeter bestehen können.
Türkische Geschichten erzählt vom heiligen Wolf, großen Herrschern und Jägern, der Entstehung der Völker und von Wesen aus Ober- und Unterwelt. Dabei spielen auch die heiligen Zahlen 3, 7, 9 und 40 immer wieder eine Rolle. Die älteste Legende ist die der Wölfin Asena und der Ursprungsmythos der Türken. Nach einem Angriff wird der ganze Stamm der Tue’Kue ausgerottet, nur ein kleiner Junge überlebt. Dieser wird von der Wölfin Asena gefunden und aufgezogen. Als erwachsener Mann zeugt er mit der Wölfin zehn Jungen und sichert so das Überleben des Volkes. Der Wolf bleibt dabei ein heiliges Totemtier und Ahne der Türken. Während heute der Wolf auf Türkisch „kurt“ genannt wird, hieß der Urahne „kök böri“, also blauer, himmlischer Wolf.
Zudem gibt es verschiedene Stammesmythen, die von der Herkunft der verschiedenen Völker berichten. Die Kirk-kiz-Sage zum Beispiel erzählt von den Kirgisen im Osten der Türkei. Der Sage nach geht die Tochter des Göktürken-Herrschers Sari Han mit ihren 39 Dienstmädchen an einen verzauberten Bergsee. Dort berühren sie einen weißen Schaum im Wasser des Sees und werden schwanger. Der Herrscher verbannt sie in einen Wald, wo sie als „Kirkizlar“ – die vierzig Mädchen – weiterleben.
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