Über Generationen hinweg verbreiteten Geschichtenerzähler:innen, Halaiqis genannt, fantasievolle Erzählungen und märchenhafte Legenden, die sich um die Bevölkerung und das marokkanische Königreich selbst ranken. Während um sie eine Halqa, ein Kreis aus Zuhörenden, geformt wird, erhalten die Wortgewandten damit nicht nur eine jahrhundertealte Tradition, sondern auch ein immaterielles Kulturerbe für ihr Land.
Doch ihre Kunst ist vom Aussterben bedroht. Wir haben uns deshalb auf die Suche begeben: Nach Geschichten aus „Al-Mamlaka-al-Maghribiya“, dem Königreich Marokko, die nur selten den Weg in unsere westliche Welt finden. Während wir uns gedanklich in eine Halqa setzen, lesen wir von verbotenen und bunten Städten, mystischen Landschaften und ungewöhnlichen Traditionen. Von verträumten Erzählungen und verblüffenden Fakten aus Marokko, die sich im Schatten der Sagen über Schlangenbeschwörer, Hollywood-Kulissen und Fata Morganas verstecken.
Viele marokkanische Städte haben sich mittlerweile zu richtigen Touristen-Hot-Spots entwickelt: Agadir, mit der direkten Anbindung ans Meer, oder Casablanca, bekannt aus Film und Fernsehen als beliebte Drehkulisse. Dabei gibt es noch die ein oder andere unscheinbare Stadt, die mit ihrer Geschichte nicht hinter den Mauern halten muss.
14.000 Menschen leben in dem kleinen Städtchen Moulay Idriss, welches am Hang des Zerhoun-Massivs in der Nordhälfte Marokkos erbaut wurde. Für die Einheimischen ist Moulay Idriss jedoch nicht einfach nur eine Stadt, sondern eine heilige Stätte und Wallfahrtsort. Hier liegt nämlich der Staatsgründer Idris I. begraben, welcher von 789 bis 791 über Marokko herrschte und das Herrschaftsgebiet erfolgreich ausweitete, bevor er an einer Vergiftung starb. Die Ur-Bevölkerung des Landes, auch Berber genannt, erkannten Idris I. sogar als Imam an.
Der muslimische Glaube in Marokko besagt, dass sieben Reisen zur Grabstätte in Moulay Idriss den Weg zur Hadsch nach Mekka ersetzen. Für religiöse Einheimische ist dies ein großer Anreiz, da nur wenige von ihnen eine Reise nach Mekka finanziell stemmen können. Diejenigen, die nicht dem muslimischen Glauben zugewandt waren, durften die Stadt bis Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch nicht einmal betreten. Die Regelung wurde zwar mittlerweile etwas gelockert, die Grabstätte selbst ist allerdings weiterhin nicht frei begehbar. Auch Übernachtungen in der Stadt sind bis heute für Tourist:innen und Nicht-Gläubige untersagt.
Chefchaouen, ein kleiner Ort im Rif-Gebirge, war ebenfalls lange Zeit nur den Einheimischen vorbehalten. Die Stadt wird, genauso wie Moulay Idriss, als heiliger Ort wahrgenommen und wer als Andersglaubende:r eintreten wollte, konnte sich unter Androhung der Todesstrafe schnell wieder auf den Rückweg begeben. Doch das besondere an Chefchaouen ist nicht die religiöse Verbindung, sondern vielmehr die Farbgebung der gesamten Stadt. Alle Häuser, Mauern und Straßen wurden in Blautöne getaucht. Warum sich ausgerechnet für Blau entschieden wurde, ist bis heute ungeklärt, doch kursieren zwei weit verbreitete Vermutungen:
Zum einen wird gesagt, der Farbton beschütze vor bösen Blicken, magischen Fähigkeiten und großem Unheil. Mit dem Hintergrundwissen, dass blau als Farbe eine beruhigende Wirkung nachgesagt wird, scheint diese Erklärung nicht abwegig. Auf der anderen Seite sind sowohl der Gott als auch der Himmel im Judentum blau gekennzeichnet. Da Marokko über die Jahrzehnte von vielfältigen Kulturen beeinflusst wurde und das Land viele jüdische Zuwanderer verzeichnet, klingt auch dieser Ansatz durchaus plausibel. Es gibt auch eine rote Stadt: Marrakesch. Hier sind allerdings weder Mythos noch Glaube ausschlaggebende Faktoren für die Farbnuancen, es wurden schlichtweg Lehm und roter Sandstein als Baumaterialien verwendet.
Marokko ist nicht nur eine geschichtsträchtige Nation, sie bietet außerdem vielfältige Landschaften. Rosen-Valleys liegen zwischen Wüstenregionen und verlassenen Wohnorten, Sandstrände und glasklares Meerwasser werden von Reisenden besiedelt. Im Landesinneren, in den Bergregionen vom Rif- und Atlasgebirge, leben vor allem die Einheimischen, die von der Ur-Bevölkerung, den sogenannten Berbern, abstammen – doch auch hier sind die Einflüsse fremder Kulturen deutlich spürbar.
Um es nochmal zu betonen: Die Metropole bietet wirklich viel Wundervolles zu entdecken und ein Besuch lohnt sich allemal. Ist die Stadttour abgehakt, sollte der Blick unbedingt 80 Kilometer von Marrakesch entfernt gerichtet werden. Der Djebel Toubkal ist mit 4.167 Metern der höchste Berg Nordafrikas, liegt im Atlas-Gebirge und Sportliebende finden hier – man glaubt es kaum – Marokkos Zentrum für Wintersport. Das größte Skigebiet heißt Oukaimeden und bietet in Summe 23 Kilometer Pistenlänge mit zehn Liften. Damit macht Marokko so manchem europäischen Wintersportort Konkurrenz, hier dauert die Saison nämlich ebenfalls von November bis März.
Sicher, Einheimische genießen es auch, auf über 4.000 Höhenmetern eine Abkühlung von der heißen Wüstenluft genießen zu können, vorrangig nutzen aber Besuchende das Areal. Selbst ohne Ski-Ausrüstung lohnt sich der Weg auf den Djebel Toubkal, denn der Ausblick ist einmalig: Wer oben auf der Piste steht und nach Süden schaut, wird keinen Schnee sehen. Wird der Blick jedoch nach Norden gerichtet, blendet die weiße Pracht das Augenlicht. Kurios, oder?
Heute sind es Touristen-Attraktionen, die auf Marokko einwirken. Doch das Land wurde bereits im achten Jahrhundert von Kolonialmächten und anderen Truppen beeinflusst und regiert. Deutlich wird das nicht nur in den verschiedenen Sprachen, Religionen und Kulturen, die es im westlichen Königreich gibt. So lassen sich die Menschen im marokkanischen Königreich von den Halaiqis beispielsweise eine Legende über die Entstehung des Atlas-Gebirges erzählen, welche eindeutig von der römischen und griechischen Mythologie beeinflusst wurde.
In der griechischen Mythologie war Atlas ein Titan. Seine Kraft und Größe ermöglichten es ihm, das gesamte Himmelsgewölbe auf seinen Schultern zu tragen. Doch Atlas war nicht nur stark, er glaubte auch an Prophezeiungen.
Eine dieser Vorhersagen verlautete, dass ein Sohn von Zeus kommen und die goldenen Äpfel der Hesperiden, Atlas‘ Töchter und zugleich die Töchter des Abends, stehlen würde. Und da es nicht anders sein sollte, klopfte kurz darauf Perseus, ein eben solcher Sohn des Zeus und Bezwinger der Medusa, an die Haustür des Titans. Als Atlas ihm jedoch den Einlass verwehrte, hielt Perseus dem Hausherrn kurzerhand den abgeschlagenen Schlangenkopf vors Gesicht.
Genau dort, wo sich heute das Atlas-Gebirge befindet, ist der Träger des Himmelskörpers zu Stein erstarrt. Er muss wirklich groß gewesen sein: Die Gebirgskette erstreckt sich von Marokko über Algerien bis nach Tunesien.
Wir sitzen immer noch in der Halqa und sind gedanklich schon durch verschiedene Städte gezogen (falls wir nicht mit Androhung der Todesstrafe vertrieben wurden) und in den Bergen Marokkos wandern gewesen. Egal, wo uns unser Weg hingeführt hat, Pferde waren überall zu finden. Was hat es damit auf sich? Und warum machen alle so ein Buhei um Tee? Werfen wir einen Blick auf die Traditionen des Landes.
Was aussieht wie ein wildgewordener Mob kampfbereiter Menschen auf bunt geschmückten Pferden, ist in Wahrheit eine bis ins kleinste Detail geplante Choreografie. „La tbourida“ nennt sich die Reitübung aus dem 16. Jahrhundert, die, genau wie die Halaiqis, von der UNESCO offiziell zum „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ ernannt wurden.
Diese Tradition ist für marokkanische Einheimische mit einem großen Nationalstolz und noch größerem emotionalen Wert verbunden. Deshalb wird die Ehre, als sogenannter „Mokkadem“ (Reitende:r) in die Truppe zu folgen, oft innerhalb der Familie weitergegeben. Doch dann heißt es nicht einfach „Hühott!“. Die Grundvoraussetzung, bevor ein Mokkadem an der Zeremonie teilnehmen darf, ist es, ein Pferd ordentlich satteln zu können – und allein diese Kunst zu erlernen kann bis zu zwei Jahre dauern.
In der Reitkonstellation hat jede:r der 15 Reiter:innen eine bestimmte Aufgabe, die innerhalb der Choreografie erfüllt werden muss: Bewegungsabläufe koordinieren, die Truppe zusammenhalten, Karambolagen verhindern, und so weiter. Zugleich ist der Bewegungsablauf, wenn auch mit regionalen Unterschieden, festgelegt und genauestens einstudiert.
Doch damit nicht genug: Die Sattelnden tragen während der Zeremonie auch traditionelle Waffen, einen kleinen Koran sowie ihren Nationalstolz durch ihre Kleidung nach außen (auch das Outfit tragen muss übrigens geübt werden). Das vorrangige Ziel ist allerdings nicht, einen fehlerfreien Auftritt über die Bühne zu bringen, sondern das Erbe an spätere Generationen weiterzutragen.
La tbourida ist mehr als nur eine Zeremonie. Die Tradition ist seit Jahrhunderten an ein ganzes wirtschaftliches Ökosystem geknüpft: Sowohl die Herstellung der festlichen Kleidung für Mensch und Tier als auch der traditionellen Waffen bringen lukrative Gewinne. Gleiches gilt für die weniger wahrgenommene Ausrüstung: Ein Sattel besteht beispielsweise aus 35 Teilen, an denen mehrere Kunstschaffende vom Design bis zur Fertigstellung beteiligt sind. Die Kostüme der Tiere sind mindestens genauso wichtig wie die für die Reitenden, denn Pferde nehmen in Marokko einen ganz besonderen Stellenwert ein.
Die ursprüngliche Pferderasse Nordafrikas hießen genauso wie die ursprüngliche Bevölkerung des westlichen Königreichs: Berber. Die Tiere wurden schon vor 4.000 Jahren gezüchtet, damals als Kriegspferde. Sowohl Griechen als auch Römer betrachteten die Rasse als wertvolles Handelsgut, während die Franzosen damit begannen die Tiere mit anderen Rassen zu kreuzen. Aus diesem Grund sind reinrassige Berber-Pferde heute vom Aussterben bedroht.
Um dem entgegenzuwirken, gründete ein mittlerweile verstorbener marokkanischer König ein Staatsgestüt zur Wiederbelebung der Zucht. Bis heute können Züchter ihre eingetragenen Berberstuten dort kostenlos unterstellen und decken lassen. Das Pferd ist für Marokkaner insbesondere in ländlichen Gebieten wie der Porsche für Christian Lindner: Ein Statussymbol von Wohlstand. Nur wird das Pferd wie ein Familienmitglied und nicht wie ein reiner Luxusgegenstand behandelt.
Wer jedoch in Marokko einen Ausritt machen will, bekommt nur unkastrierte Hengste gestellt. Über Kastration wird gesagt, dass die Tiere dadurch ihre Seele verlieren.
Das Sprichwort „Liebe geht durch den Magen“ scheint doch nicht so weit verbreitet zu sein wie (zumindest von der Autorin) immer angenommen. In Marokko wird der Fokus nämlich auf ein anderes Organ gelegt: Hier ist die Leber das Symbol der Liebe und Zuneigung. Wer also in Nordafrika gute Leberwerte vorweisen kann, dem wird sowohl eine gute Verdauung sowie Wohlbefinden nachgesagt. Es existiert sogar die Aussage „Du hast meine Leber erobert“. Ein Spruch, den die Deutschen wohl nur dem Alkohol entgegenbringen würden.
Während die Liebe in Marokko also durch die Leber geht, kommt auch die Blase nicht zu kurz. Das Nationalgetränk ist nämlich der Minztee und davon wird wirklich reichlich getrunken: Zum Besiegeln von Geschäften, bei Feierlichkeiten, um Gäste zu begrüßen oder eben bei so ziemlich jeder anderen Gelegenheit.
Wer schon einmal in Marokko war, dem oder der wird aufgefallen sein, dass beim Eingießen oft ein riesiger Abstand zwischen Kanne und Glas gehalten und das Prozedere vor dem Trinken oftmals wiederholt wird. Zum einen dient dieses Vorgehen dem Abkühlen und der Aromaentfaltung, es gibt aber auch eine traditionelle Geschichte dahinter.
Früher zogen etliche Nomaden und Kamelkarawanen durch die Wüste Marokkos. Um hydriert zu bleiben, tranken sie neben Wasser auch ausreichend Tee, wobei jedoch Staub und Sand den Genuss maßgeblich störten. Durch das wiederholte Eingießen setzten sich die Dreckpartikel in einer Schaumschicht ab, die sich durch den Prozess auf dem Getränk gebildet hat. Dieser Schaum konnte dann einfach weggepustet werden, woraufhin der Tee staubfrei und genießbar wurde.
Traditionellerweise wird nicht nur das Eingießen mehrmals wiederholt, sondern auch das Kochen. Drei Mal brodelt eine Teemischung in der Kanne, wobei in der Regel auch einiges an Zucker hinzugegeben wird. Durch das mehrmalige Aufkochen spalten sich nämlich die Zuckermoleküle, was dem Tee noch mehr Süße verleiht. Und auch der Zucker hat eine wichtige Bedeutung im Getränk: Je süßer ein Tee schmeckt, desto willkommener ist der Gast, der ihn trinkt.
Sollte euer Tee in Marokko nur nach Minze schmecken, wisst ihr, woran ihr seid. Trinken solltet ihr ihn trotzdem! Denn es gilt als sehr unhöflich, das Nationalgetränk abzulehnen. Nehmt ihn stattdessen langsam und schlürfend zu euch. Im Vordergrund steht immerhin nicht das aufwendige Prozedere des Teezubereitens, sondern das Beisammensein und die Geselligkeit.
In Marokko nimmt die Gemeinschaft einen großen Stellenwert ein – ob bei Reit-, Tee- oder Sitzkreiszeremonien, wie beispielsweise der Halqa, in der wir uns gedanklich weiterhin befinden. An dieser Stelle endet jedoch unsere Reise durch „Al-Mamlaka-al-Maghribiya“. Doch nicht nur Marokko hat unendlich viele Geschichten, die gehört und gelesen werden wollen. Wenn ihr also weiterhin in unserem Sitzkreis verweilen möchtet, dann klickt euch durch die anderen Beiträge aus der Planet Storytelling-Reihe und reist durch Bolivien, Rumänien oder auch Schweden.
Wenn Unternehmen oder Organisationen uns mit ihren Geschichten zum Lachen, Weinen oder Staunen bringen, haben…
In der 27. Folge unseres Praxis-Talk: Brand Storytelling Podcasts spricht Miriam Rupp mit Christiane Grunwald…
Wenn Unternehmen oder Organisationen uns mit ihren Geschichten zum Lachen, Weinen oder Staunen bringen, haben…
Ranking der stärksten Arbeitgebermarken in der Versicherungsbranche: Am meisten kann bei den Talenten punkten, wer…
Vertrauen ist die wichtigste Währung in der Finanzbranche. PR hilft Finanzunternehmen nicht nur, Krisen zu…
Employer Branding als Schlüssel zum Fachkräftemangel In Zeiten des Fachkräftemangels gewinnen starke Arbeitgebermarken an Bedeutung.…