Die Legende ist eine literarische Gattung, die nah an Sage und Mythos angesiedelt ist. Jemand ist so bekannt geworden, dass sich eine Legende um ihn rankt. Strenggenommen: eine Aufstiegsgeschichte – was ausgezeichnet zum 1. FC Union Berlin passt, dem Nonkonformisten, den (viel zu) lange keiner auf der Rechnung hatte. Allerdings „arbeitet“ eine Legende. Sie hat die Wahrheit zum Kern, wird jedoch immer weiter ausgeschmückt, je öfter sie erzählt wird.
Geschichten sind mächtig, weshalb sie sich, insbesondere im Profisport, als Erklärung für das bisher Gewesene und Motivation für alles Kommende geradezu anbieten. Sie sind die emotionale Unterfütterung des sonst so knallharten Geschäfts. Und das ist es zweifellos: In Deutschland wird mit keinem Sport so viel Geld verdient wie mit König Fußball. In der Bundesliga wurden in der Saison 2021/2022 rund 3 Milliarden Euro erwirtschaftet. Doch dem Fan eines Fußballklubs geht es nicht ums Geld. Irgendwo muss das Herz sein, möchte er der zwölfte Mann sein, bei Wind und Wetter mitfiebern, auch wenn die Situation ausweglos erscheint, mit den kalten Händen seinen Schal zum Himmel reckend, die Kehle wund von Schlachtruf und Gesang. Er will mit im Boot und Teil der Legende sein.
Das Wording im Fußball-Marketing ist darum ein sehr Ursprüngliches, weil – ob der Breite der Zielgruppe – wirklich jeder abgeholt werden muss. Hier werden die ganzen großen Themen verhandelt: Liebe, Leidenschaft, Treue, Religion, Tod. Nichts ist beliebig oder profan, denn immer geht es um was. Fußball IST eine Religion. Und die Stadien sind die Kathedralen der Heutzeit – jeder Gesang ein Gebet. Ein Fangesang bei Union verkündet, recht martialisch: „Unsre Farben sind weiß und rot, wir bleiben treu bis in den Tod“. Und das ist keine Übertreibung – „einmal Unioner, immer Unioner“. „Schönwetterfans“ sind in höchstem Maße verpönt, weil sie mit Treue so gar nichts am Hut haben. Nur so lange, wie die Mannschaft gewinnt, dann wird auf einen anderen Sieger gesetzt. Wie bei einer Religion kann der Verein aber nicht einfach so gewechselt werden. Ein Fan geht mit durch jedes noch so finstere Tal, so will es das (moralisch lobenswerte, aber ungeschriebene) Gesetz. Und Täler hat der 1. FC Union, weiß Gott, genug gesehen.
Im Stadion An der Alten Försterei, der Heimstätte des 1. FC Union, klingt die Legende so:
„Es war in den goldenen Zwanzigern, […] als in Zeiten eines ungleichen Kampfes ein Schlachtruf ertönte, ein Schlachtruf wie Donnerhall, […] so wie damals, als der Durchhaltewillen der Schlosserjungs aus Oberschöneweide ins Unermessliche stieg. Eine Legende nahm ihren Lauf, ein Mythos begann zu leben und er wird niemals vergessen: Eisern Union!“
Ist es wichtig, dass der Schlachtruf „Eisern Union!“ womöglich gar nicht bereits in den goldenen Zwanzigern ertönte? Für die Legende nicht. Sie wummert mit sonorer Stimme aus den Lautsprechern des Stadions, wird andächtig im Chor mitgemurmelt, während sich auf den Rängen eine fundamentale Gänsehaut ausbreitet – und gipfelt in ihrem opulenten Finale: der Hymne, seit 1998 mit unnachahmlicher Punk-Attitude von Nina Hagen geschmettert.
Welche Werte die Legende vermittelt, ist klar: die Tradition als Arbeiterklub, Authentizität, Lokalpatriotismus, Nahbarkeit und einen (naturgemäß) eisernen Willen. Einst als ziviler Arbeiterverein geschaffen, um eine Alternative zu den „Uniformierten“ von FC Vorwärts und BFC-Dynamo zu sein, zeigt sich diese Nahbarkeit überall: Es beginnt schon beim Namen „Stadion An der Alten Försterei“.
Letztere meint das kleine Forsthaus, in dem die Geschäftsführung und Präsident Zingler ihre Büros haben. Man könnte glatt meinen, es wäre die Hauptattraktion, und das Stadion (auch „Wohnzimmer“ genannt) läge einfach zufällig daneben. Demonstriert wird: hier ist keine Kommerz-Arena. Hier, Freunde, wird mit Liebe gearbeitet, geht es familiär zu, sieht man noch vom Zaun aus Schweißperlen auf Spielerstirnen glitzern.
Auch in der Hymne bleibt der Arbeitermythos mit Anti-Profitgier-Haltung bestehen: „wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?“. Und, wo wir gerade beim Liedgut sind: „Wir sind keen Verein, wo die Euros wehn. Die richtje dicke Kohle hat hier nie eener jesehn“, heißt es in „Eisernet Lied“ von Sporti, das ebenfalls vor jedem Spiel an der AF gespielt wird. Und später: „Union Berlin, dit is unsa Hab und Jut. Keen Jold, keen Silba, aber eisernet Blut.“
Zu DDR-Zeiten lag in Oberschöneweide das größte Industriegebiet, die meisten der dort ansässigen Großbetriebe gehörten zur Elektroindustrie. Das Kabelwerk Oberspree (KWO) und das Transformatorenwerk „Karl Liebknecht“ Oberschöneweide (TRO) waren Trägerbetriebe des am 20. Januar 1966 gegründeten 1. FC Union Berlin. Als eingetragene Amateure mussten die Spieler nachweisen, dass sie einem regulären Beruf nachgingen und nicht ihren Lebensunterhalt mit Fußball bestritten – so kam es zu diesem Teil der Legende. Vermutlich ist keiner der Spieler von heute jemals als Schlosser tätig gewesen, dennoch sind weiterhin alle aktiven Spieler „Schlosserjungs“.
In der Vergangenheit waren sie rar gesät, dennoch wären natürlich zu nennen: der Gewinn des DDR-FDGB-Pokals 1968 sowie das Erreichen des DFB-Pokalendspiels 2001 und damit die Qualifikation für den UEFA-Pokal der Spielzeit 2001/2002.
Nach über zehn Jahren in der 2. Bundesliga (was auch eine Leistung ist) geschah am 27. Mai 2019 allerdings das wirklich Unfassbare: Union stieg in der Relegation in die 1. Bundesliga auf und konnte seitdem die Klasse halten. Und das war noch nicht alles. In der Saison 2020/21 qualifizierte sich Union Berlin für die UEFA Europa Conference League, 2021/22 für die Europa League, 2022/23 für die Champions League.
Mit dem derzeitigen Trainer Urs Fischer kam der Mentor, den Union gebraucht hatte. Mit seinem Nimbus der menschgewordenen Bodenständigkeit passt er zum Verein wie das letzte fehlende Puzzleteil oder ein Schlussstein. Als Fischer zur Saison 2018/2019 als Cheftrainer verpflichtet wurde, hätte ihn in Deutschland niemand auf dem Schirm gehabt – in der Schweiz hingegen hatte er schon alles erreicht: mit dem FC Basel (dem schweizerischen Bayern München, wenn man so will) war er zweimal Meister und einmal Pokalsieger geworden. Die Fairplay Agency aus Zürich hatte dann den richtigen Riecher und vermittelte ihn zu den Köpenickern. Und die Liebe ist groß. Urs Fischer ist auf so charmante Weise unprätentiös, dass es unmöglich ist, ihn nicht zu mögen. Er stellt die Mannschaft in den Vordergrund, überzeugt mit Unaufgeregtheit und Humor und verbringt seinen Urlaub gern daheim in der Schweiz beim Fliegenfischen. Sein Rezept der eisernen Defensive mag etwas unmagisch klingen, erwies sich allerdings als nachhaltig und zielführend.
ist das Wort, das am häufigsten fällt, wenn von besonders einschneidenden Ereignissen auf dem steinigen Weg des 1. FC Union erzählt wird, die massiv zum Selbstbild und -verständnis beigetragen haben. Die wichtigsten dieser Ereignisse im Überblick:
Da Union in seiner Historie noch nie an diesem Punkt war, ist alles Kommende neu – jede weitere Saison in der Bundesliga, die Europa League, jetzt sogar die Champions League. Jeder neue Meilenstein ein erstes Mal, jedes erste Mal eine Geschichte, jede davon trägt weiter zur Legendenbildung bei. Dieser Verein wird noch viel zu erzählen haben.
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