“Often a bridesmaid, never a bride” – mit diesem Werbespruch machte Listerine in den 1920er Jahren auf sein Mundwasser aufmerksam. Wer das Produkt kaufe, entgehe der Gefahr, den eigenen Mundgeruch nicht zu erkennen. Das Erfolgsrezept der “dunklen Kunst des Marketings” kochte mit der Angst – in möglicher Konsequenz – als verzweifelte Brautjungfer zu enden.
Unternehmen sind unlängst nicht mehr auf ein solches Werben um ängstlich-folgsame Mitarbeiter:innen, Nutzer:innen oder Konsument:innen angewiesen. Wer im Gedächtnis bleiben will, erzählt heute Geschichten, die die Zielgruppe ermächtigt statt verängstigt. Mit dem Modell der Heldinnenreise knüpfen Unternehmen an das Prinzip an, mit dem der Listerine-Werbespruch zu einem der erfolgreichsten im 20. Jahrhundert wurde, aber ohne sich dabei auf die Ängste und vermeintlichen Unzulänglichkeiten von Frauen zu stützen.
Storyteller besinnen sich auf die Heldenreise, wie sie der Mythenforscher Joseph Campbell in den 1940er Jahren entdeckt hat. Dabei verstand Campbell den “Helden” in der “Heldenreise” ausdrücklich nicht als generisches Maskulinum. Sein Argument lautete: „Frauen brauchen die Reise nicht anzutreten, sie sind der Ort, an den jeder zu gelangen versucht“. Mit dieser Erklärung wies er auch eine “Heldinnenreise” von der Hand.
Den Ansatz einer Heroines Journey hatte Maureen Murdock, eine Psychotherapeutin und Schülerin von Joseph Campbell, in “Woman’s Quest for Wholeness” als Antwort auf Campbells Modell der Heldenreise entwickelt. Ihr missfiel, wie passiv weibliche Figuren in den typischen Mythen und Epen repräsentiert waren. Als „Beiwerk“ für die maskulinen Protagonisten und für deren Entfaltung zwar wichtig, fehlte es ihnen an eigener Entwicklung. Grund genug, weiterzudenken, was eine gute Geschichte ausmachen kann. Murdock erklärte, dass die Reise der Heldin eine Heilung sei. Die Verwundung des Weiblichen sei tief in ihr und in der Kultur vorhanden. So beschriebt sie den Nährboden, auf dem letztlich auch der Erfolg von “Often a bridesmaid, never a bride” gründete.
Victoria Lynn Schmidt machte Murdocks Ansatz der “Heldinnenreise” für die Literatur fruchtbar und beschrieb neun Stufen, die wie bei der klassischen “Heldenreise” ausgetauscht und wiederholt werden können. Dabei verlagert sich der Fokus der Figurenmotivation weg vom Heldenepos, in dem wir den sprichwörtlichen Drachen töten müssen, um zu überleben, hin zu einem Überleben innerhalb der Familie, Gemeinschaft oder der Gesellschaft. Auf ihrer Reise nimmt die Heldin die folgenden Stufen:
Die Illusion einer perfekten Welt Die Heldin glaubt, dass die Welt, in der sie lebt, perfekt ist. Sie hat sich der Illusion hingegeben, dass sich alles zum Guten wenden wird. Gegenüber den Teilen der Welt, die vielleicht nicht ideal sind, hat sie Bewältigungsmechanismen gefunden, beispielsweise Naivität, Verleugnung oder Unterwerfung. Das ist auch der Ausgangspunkt der Kino-Geschichte der Barbie.
Verrat oder Desillusionierung Die Heldin gerät in eine Krise, in der ihre bisherigen Bewältigungsmechanismen versagen. Die Illusion der perfekten Welt zerbricht. Bei der Krise kann es sich um einen persönlichen Verrat handeln, ihr bisheriges Weltbild erweist sich als falsch oder ihre bisherigen Bewältigungsmechanismen entwickeln sich ins Ungesunde.
Das böse Erwachen Zunächst will die Heldin ihren derzeitigen Zustand nicht akzeptieren. Andere entmutigen sie, aber dennoch beschließt die Heldin etwas gegen ihren Konflikt zu unternehmen. Dabei sucht sie nach externer Hilfe und Führung und kann auf Hilfsmittel aus ihrer perfekten Welt zurückgreifen, die ihr auf ihrem Weg helfen.
Der Abstieg: Durchschreiten der Pforte Die Heldin hegt Zweifel an ihrem neuen Lebensstil oder ihrer neuen Identität. Um jedoch weiterzukommen, muss sie ihre Werkzeuge aufgeben und die Zweifel loslassen, die sie zurückhalten. Womöglich erfährt die Heldin Ängste, Scham oder Schuldgefühle in Bezug auf den Ausdruck ihrer Selbst und dem Loslassen von Beziehungen, die für sie nicht mehr funktionieren.
Das Auge des Zyklons Für eine kurze Zeit triumphiert die Heldin. Der Erfolg ist jedoch trügerisch und hält nicht an, weil beispielsweise Menschen um sie herum nicht lange von Frauen geführt werden wollen, oder die Männer um sie herum beginnen, sie zu untergraben. In einer anderen Variante muss sie versuchen, mehrere Rollen auszufüllen, die teils widersprüchlich und für eine einzelne Person unmöglich zu erfüllen sind.
Alles ist verloren Die Heldin erkennt, dass ihre neu erlernten Fähigkeiten ihr nicht helfen, sie aber auch nicht auf ihre alten Bewältigungsmechanismen mehr zurückgreifen kann. Die Situation um sie herum verschlechtert sich und sie hat keine andere Wahl, als ihre Niederlage zu akzeptieren.
Unterstützung durch Mentor:in Die Heldin findet Unterstützung in einer Mentor:in, die ihr zur Seite steht. Die Heldin nimmt die Hilfe der Unterstützer:in an und begreift, dass es nicht ausreicht, ganz und gar unabhängig zu handeln.
Wiedergeburt oder Moment der Wahrheit Dank der Unterstützung, die sie erhalten hat, findet die Heldin wieder Mut und Hoffnung. Sie begreift ihren Platz in der Welt und weiß, wie sie ihren Zweifeln begegnet. Die Welt und ihre Rolle darin sieht sie mit anderen Augen.
Rückkehr in eine neue Welt Die Heldin sieht die Welt, wie sie wirklich ist. Sie versteht sich selbst besser. Es hat sich ihre innere Haltung und ihre Beziehung zur Welt verändert, wenn auch nicht notwendigerweise ihre äußere Rolle.
Gail Carrigers entwickelte das Modell der „The Heroine’s Journey“ weiter. Auch für sie geht es bei der Heldinnenreise im Unterschied zur Heldenreise nicht um heroische Selbstaufopferung, sondern darum, dass die Heldin Gemeinschaft und Verbindung findet und aufrechterhält. Wobei Gail Carriger eine klare Unterscheidung zwischen Geschlechterstereotypen und Gender macht: Harry Potter ist etwa eine Heldinnenreise und der erste Wonder-Woman-Film eine Heldenreise. Der junge Potter findet, indem er die Gemeinschaft aus Freund:innen aufrecht erhält, die innere Heilung über den Verlust seiner Eltern, während Wonder Woman durch Selbstaufopferung Anerkennung in der äußeren Welt erreicht.
Ob Heldinnenreise oder Heldenreise, Unternehmen kreieren erfolgreiche Geschichten, wenn sie selbst in die Mentor:innen-Rolle schlüpfen und ihrer Zielgruppe – den wahren Held:innen – mit Rat und Tat und mitunter hilfreichen Gegenständen zur Seite stehen. Wie gut es Marketing- und PR-Fachleuten gelingt, sich in ihre Zielgruppe einzufühlen und sie zu Held:innen zu ermächtigen, entscheidet letztlich über den Erfolg einer Marke. Dabei ist das Konzept der Heldinnenreise ein wertvolles Werkzeug, das für die Unternehmenskommunikation fruchtbar gemacht werden kann.
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