Was wissen wir vom Baltikum? Wahrscheinlich nicht viel mehr, als dass die baltischen Länder ehemals zu Sowjetunion gehörten, dass es an der Ostsee liegt und es dort viel Bernstein gibt. Klassische Sehnsuchtsorte sind diese Länder jedoch nicht.
Lettland ist der mittlere der drei baltischen Staaten, eingeschmiegt zwischen Litauen und Estland. Mit einer Fläche von 64.589 km² ist es etwas kleiner als Bayern. Und unfassbar grün: Fast die Hälfte des Landes ist mit Wald bedeckt. Lettlands Hauptstadt Riga ist ein märchenhaftes Juwel. An die 800 Jugendstilbauten gibt es in seiner Altstadt – so viele wie in keiner anderen europäischen Stadt. Wohin man schaut, opulente Fassaden mit Ornamenten, Fabelwesen, Frauenbüsten und steinernen Blumen: Zeugnisse der wirtschaftlichen Blüte Ende des 19. Jahrhunderts. Das historische Zentrum Rigas wurde deswegen 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Doch es gibt noch so viel mehr zu erzählen. Aber vor allem: zu singen!
Jede Nation hat eine kulturelle Identität, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Lettland eine der schönsten hat: das gemeinsame Singen. Es wird einfach überall gesungen. Fast jeder Lette ist Mitglied in einem Chor. Seit Generationen schon ist Chorgesang Teil des Musikunterrichts in den Schulen. Das Land verfügt über einen riesigen Schatz an nationalen Volksliedern, die jeder kennt und zu Gehör bringt, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet.
Das ewige Sehnsuchtsthema des Landes ist Unabhängigkeit. Über Jahrhunderte hatte Lettland mit Fremdherrschaft zu kämpfen: Deutsche, Polen, Schweden, Russen – alle zerrten an der kleinen Nation. Dieser Umstand und der nie enden wollende Wunsch nach Freiheit haben sich seit der vorchristlichen Zeit, in der die altlettische (Natur-)Religion noch eine Rolle spielte, tief in die Lieder, Märchen und Erzählungen eingegraben.
Vor allem in die sogenannten „Dainas“ – vier- bis sechszeilige, reimlose Lieder, die von Mythologie bis hin zu Alltagsproblemen alle möglichen Themen verarbeiten. Sie bilden eine Art Oral History, die bis heute zum lettischen Allgemeinwissen gehört. Das Zitieren und Singen dieser Gedichte ist in Lettland immer noch üblich und verbreitet. Sie werden bereits im Kindergarten und in der Schule unterrichtet und bei besonderen Anlässen, aber auch zum Zeitvertreib, aus dem Stegreif gesungen.
Beispiele:
Visas dienas man zināmas
trīs dieniņas nezināmas:
dzimstamā, mirstamā,
ejamā tautiņās.Alle Tage kann ich kennen,
drei kann ich nicht vorher sehen:
wann ich werde, wann ich sterbe,
wann ich einen Mann mir nehm.
Melna čūska miltus mala
Vidū jūras uz akmeņa.
Tos būs ēst tiem kungiem,
Kas bez saules strādinaja.Schwarze Schlange hat gemahlen
Mehl im Meer auf einem Felsen.
Das sei Speise für die Herren,
die uns fern der Sonne knechten.
Das zweite Daina greift ein sehr altes Motiv aus der baltischen Mythologie auf: die Schlange in der Mitte der See, die aus dem Chaos die Welt erschafft. Dies wird mit einem profaneren Kommentar zur Sklaverei in späterer Zeit verbunden.
Warum die Dainas nie in Vergessenheit geraten sind, hat einen einfachen Grund: Es gab sehr lange keine lettische Schriftsprache. Das lag an der deutsch-baltischen Oberschicht, die vom 13. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg herrschte. Die lettische Bevölkerung bestand vorwiegend aus Bauern und Fischern. Sie waren Leibeigene und durften den Landbesitz ihrer Herrschaft nicht verlassen. Also waren die Dainas die wichtigste, wenn nicht einzige Möglichkeit, Mythen und Bräuche weiterzugeben und blieben bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die Letten ein lebendiges und sich immer weiter entwickelndes Ausdrucksmittel.
Im 19. Jahrhundert wurden die bis dahin ausschließlich mündlich überlieferten Dainas endlich gesammelt und aufgearbeitet. Zwischen 1894 und 1915 veröffentlichte Krišjānis Barons, der „Vater der Dainas“, die größte und bis heute wichtigste Sammlung – 217.996 Lieder in sechs Bänden. Der „Dainu skapis“, ein von ihm speziell dafür entworfener Schrank, ist heute ein lettisches Nationalheiligtum. Schätzungen zufolge sind aktuell rund 1,2 Millionen Dainas schriftlich fixiert, zudem wurden 30.000 Melodien gefunden.
Die Lettische Flagge wurde bereits im 13. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt, als lettische Stämme sich unter ihr vereinten und gegen benachbarte estnische Stämme in den Krieg zogen. Eine Legende dazu gibt es auch: Nach dieser soll die Flagge entstanden sein, als ein verwundeter lettischer Stammesfürst in ein weißes Leinentuch gewickelt und dieses – bis auf den schmalen, weißen Streifen in der Mitte, auf dem sein Leib lag – durch das Blut rot eingefärbt wurde.
1917 wurde die lettische Flagge dann von dem Künstler Ansis Cirulis in der Art entworfen, wie sie bis heute verwendet wird. Das Weiß soll für Reinheit und Gerechtigkeit, das Rot für das vergossene Blut stehen, das der schreckliche Preis für das Erlangen der Unabhängigkeit war. Die spezielle karminrote Farbe ist übrigens sehr ungewöhnlich und einzigartig. Sie wird sogar offiziell als „Lettischrot“ bezeichnet. Tatsächlich soll sie ursprünglich von roten Beeren stammen, mit denen früher Stoff gefärbt wurde, nicht von hingemetzelten Kriegern.
Die von allen nationalen Feiertagen beliebtesten und wichtigsten sind der 23. (Līgo) und der 24. Juni (Jāņi) – und vor allem die Nacht dazwischen, die sogenannte Johannisnacht. Das ist die kürzeste Nacht des Jahres, wenn die Sonne erst kurz vor null Uhr unter- und schon um 4:30 Uhr wieder aufgeht, ohne dass es dazwischen merklich dunkel war: die Sommersonnenwende. Bereits Wochen vorher bereiten sich alle darauf vor, es ist eine Zeit des Zaubers.
Kräuter werden gesammelt, die magische Kräfte haben sollen, Häuser und Zimmer mit Birken-, Eichen- und Ebereschenzweigen geschmückt und Kränze für die Haare gewunden. Diese aus heidnischen, prä-christlichen Zeiten stammenden Feiertage werden traditionell in der Natur gefeiert. Die Menschen fahren aufs Land, sie finden draußen zusammen, essen, trinken – und vor allem erzählen, singen und tanzen sie am Feuer. Erneuerung, Leben und Fruchtbarkeit sind, passend dazu wird der Fruchtbarkeitsgott Jānis geehrt.
Wichtig ist es, die ganze Nacht wachzubleiben und bestimmte Rituale abzuhalten, diese enden erst bei Sonnenaufgang mit der Begrüßung der aufgehenden Sonne. Die Tradition ist jahrhundertealt und wurde über viele Generationen über die Volkslieder weitergegeben. Obwohl in Lettland heutzutage der Christliche Glaube überwiegt, ist immer eine Faszination für die alte Naturreligion und insbesondere den Sonnenkult geblieben.
Das größte Fest des Landes mit einem der größten Chöre der Welt ist das Sängerfest. Alle fünf Jahre kommen hier für eine Woche mehr als 30.000 Sänger, Tänzer und Musikanten aus Lettland und der ganzen Welt und über 40.000 Zuschauende zusammen. Die lettischen Chöre und Volkstanzgruppen durchlaufen vor ihrer Teilnahme eine strenge Auswahl. Die Liederfeste gibt es in allen drei baltischen Staaten, nicht nur in Lettland. Sie stehen seit 2003 auf der Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO.
Das lettische Sängerfest zelebriert auf liebevollste und leidenschaftlichste Art und Weise nationale Einheit und Identität. Seinen Höhepunkt bildet der traditionelle Festumzug in Riga mit sämtlichen Teilnehmergruppen aus ganz Lettland und lettischen Folkloregruppen aus vielen Teilen der Welt. Am letzten Tag des Liederfests finden die beiden Abschlusskonzerte statt: das Volkstanzfest im Daugava-Stadion und abschließend das große Chorkonzert auf der 1955 eigens für die Liederfeste gebauten Freilichtbühne in Mežaparks (deutsch: Kaiserwald). Seit 2014 ist der Abschlusstag der Festwoche sogar ein nationaler Feiertag. Beim Sängerfest 2023 konnte bereits das 150-jährige Bestehen des Liederfeste gefeiert werden.
Das Wesen der lettischen Lieder- und Tanzfeste versuchte der langjährige Oberdirigent Haralds Mednis (1906–2000) folgendermaßen zu beschreiben: „Wenn wir gemeinsam singen, dann sind wir anders – wir vertrauen dem, der neben uns singt. Wir kämpfen für eine gemeinsame Idee. Das Lied hat eine Kraft, ohne die kein Volk und keine Zeit auskommen kann – es ist der beste Teil des Menschen.“
Das bekannteste Lied neben der Nationalhymne ist „Saule, Pērkons, Daugava“ (deutsch: Sonne, Donner, Daugava) von Mārtiņš Brauns. Für viele ist dieses Lied so etwas wie die heimliche Hymne Lettlands.
Kein Wunder, dass ein Land, in dem Musik und Gesang so wichtig sind, Teil einer Kette von Ereignissen war, die als „Singende Revolution“ bekannt werden sollte. Im Sommer 1988 kamen Hunderttausende zu einem Sängerfest ins estnische Tallinn, um für Einigkeit und Unabhängigkeit zu demonstrieren, daher auch der Name „Singende Revolution“. Die Balten machten darauf aufmerksam, dass Estland, Lettland und Litauen die einzigen Länder Europas waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre zuvor vorhandene staatliche Eigenständigkeit durch die sowjetische Besetzung nicht wiedererlangen konnten.
Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes, in dessen geheimen Protokollen Deutschland und die Sowjetunion Europa aufgeteilt und das Baltikum dem Stalin-Reich zugeschlagen hatten, geschah etwas nie Dagewesenes: Menschen aus Estland, Lettland und Litauen bildeten eine über 600 Kilometer lange, durchgehende Menschenkette durch die drei baltischen Staaten: von Vilnius in Litauen durch Riga in Lettland bis nach Tallinn in Estland, entlang der „Via Baltica“, einer Fernstraße, die durch das ganze Baltikum verläuft.
Nie zuvor in der Geschichte der Sowjetunion waren so viele Menschen zu einer systemkritischen Demonstration zusammengekommen, und niemand wusste, wie Moskau reagieren würde. Glücklicherweise blieben die Bestrebungen friedlich. Bis heute ist diese Aktion, der „Baltische Weg“, einzigartig. Und sie endete tatsächlich für alle drei baltischen Staaten mit Unabhängigkeit und Freiheit.
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