Als PR und Brand Storytelling Agentur fällt es uns leicht, in unsere eigene Unternehmensgeschichte zu blicken und von unserem Weg ins Heute zu erzählen, einschließlich zahlreicher Hürden und Stolpersteine. Schließlich ist Storytelling für uns nicht nur ein trendy Buzzword, sondern unsere Philosophie. Auch unseren Kunden geben wir immer wieder mit, nicht nur die eine Seite der Medaille nach außen zu kommunizieren, sondern die gesamte Reise abzubilden. Für die meisten jungen Gründer:innen ist das kein Drama. Schließlich kennen alle die Schwierigkeiten, die vom ersten Eintrag ins Handelsregister bis zur Stabilisierung des eigenen Unternehmens aufwarten können.
Traditionsmarken hingegen blicken oft auf eine langjährige Geschichte zurück, die in manchen Fällen eine weit über 100-jährige Vergangenheit aufweist. Dabei wäre es jedoch vermessen zu glauben, dass die damalige Gründergeneration ausschließlich persönliche Widerstände zu überwinden hatte und die einzige Intention der Firmen darin bestand, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wie sieht also das Fundament, auf dessen Grundmauern die heutigen Konzerne errichtet wurden, aus? Sollte wirklich JEDE Geschichte offen kommuniziert werden? Auch wir als Storytelling-Beraterinnen müssen uns bewusst diese Fragen stellen.
Wer unseren Blog kennt, dem ist sie natürlich längst ein Begriff: die Heldenreise. Sie ist das Herzstück einer jeden guten Geschichte – egal, ob im Film, Fernsehen oder in der echten Welt da draußen. Der Werdegang unzähliger Brands, von Barbies Traumfabrik Mattel bis hin zur Teddybärenmanufaktur Steiff, lässt sich anhand des Modells nach dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell erzählen. Dieses zeigt, dass zum Erfolg eines Unternehmens, manchmal auch herbe Rückschläge oder schicksalhafte falsche Entscheidungen gehören. Die wesentliche Frage dabei ist, ob und wie diese düsteren Stationen der Heldenreise heute kommuniziert werden.
Für alle, die jetzt tiefer ins Storytelling-Universum einsteigen möchten, hat unsere Beraterin Luisa die Basics einmal genauer erklärt.
Auch die folgenden drei Unternehmen mussten sich in der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit mit der Frage auseinandersetzen, ob und wie ihre Geschichte erzählt werden sollte.
Der Pharmakonzern Grünenthal machte in den 1960er-Jahren Schlagzeilen. Nur leider nicht von der guten Sorte. Denn das von ihm produzierte Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan, das zwischen 1957 und 1961 in Deutschland verkauft wurde, konnte mitunter schwere Nebenwirkungen verursachen. Das Ausmaß zeigte sich jedoch erst nach einigen Monaten, denn das Mittel wurde vorwiegend schwangeren Frauen zur Behandlung von Morgenübelkeit verschrieben. Mit schwerwiegenden Folgen: Es kam zu zahlreichen Fehlbildungen an Händen und Füßen, zur Verkürzung oder dem völligen Fehlen von Armen und Beinen sowie diversen weiteren Missbildungen an den ungeborenen Kindern, die zeitlebens unter der Bezeichnung „Contergan-Babys“ leben sollten.
Die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass dieses Medikament auf den Markt kam, ist mehr als berechtigt. Allerdings müssen wir verstehen, dass es in den 1950er und 1960er-Jahren längst nicht solche Standards in der Pharmaindustrie gab, wie wir sie heute kennen. Weder gab es ausreichende Tests zur Sicherheit der Einnahme bei Schwangerschaften noch spezifische Gesetze zur Arzneimittelüberwachung. Die darauffolgenden Skandale und der sogenannte Contergan-Prozess sorgten schließlich erst für die Einführung von strengeren Kontrollen und mehr Transparenz in der Medikamentenzulassung. Das war zwar ein wichtiger Wendepunkt für die Sicherheit in der pharmazeutischen Industrie, doch wer übernimmt die Verantwortung für die Betroffenen und kümmert sich um sie?
Heute sind die damaligen „Contergan-Kinder“ erwachsen. Der Skandal ist in der Öffentlichkeit vergessen, doch ihre Behinderungen begleiten die Betroffenen ein Leben lang. Wie geht Grünenthal mit seiner Verantwortung um? Auf der eigens für die Aufbereitung bereitgestellten Webseite kommuniziert der Pharmakonzern das komplette Kapitel aus der Unternehmensgeschichte. Ungeschönt. Offen. Ehrlich. Aber vor allem: aufrichtig. Besonders der „Contergan-Zeitstrahl“ gibt einen ausführlichen Einblick über die Geschehnisse der damaligen Zeit. Damit eben nicht vergessen wird.
Die Contergan-Tragödie wird stets Teil unserer Unternehmensgeschichte bleiben. Wir werden niemals vergessen, was geschah, und bedauern zutiefst die weitreichenden Folgen für die betroffenen Menschen und ihre Familien.
Grünenthal GmbH
Mit der klaren Botschaft, dass eben auch dieser Teil der Geschichte zur Organisation gehört, dem transparenten Umgang und der ins Leben gerufenen „Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung von Thalidomidbetroffenen“, bleibt die Erinnerung an dieses Kapitel erhalten.
Wir können nicht über den offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit schreiben und Heldenreisen zelebrieren, ohne unsere eigene Geschichte – die unserer Nation – zu reflektieren. Das hat sich auch das über 90 Jahre alte Bauunternehmen Matthäi gedacht und auf seiner Webseite die Entscheidungen der eigenen Vorfahren kritisch hinterfragt.
Die Brüder Hermann und Rudolf Matthäi haben in ihrem Gründungsjahr 1933 einen Auftrag der NS-Führung angenommen, mit dem Bau bzw. der Restaurierung verschiedener Gebäude das Regime unterstützt und damit Profit erwirtschaftet. Kein Einzelfall aus der damaligen Zeit und doch eine Vergangenheit, die jede:r heutige CEO vermutlich lieber nicht hätte. Obwohl die Geschichte des Baukonzerns keine mediale Aufmerksamkeit auf sich zog und es leicht gewesen wäre, dieses Kapitel einfach zu verschweigen, entschied sich Matthäi für eine offene, transparente Kommunikation:
Denn Verantwortung endet nicht mit einer geschichtlichen Epoche – in unseren Augen beginnt sie damit erst.
MATTHÄI Bauunternehmen GmbH & Co. KG
Dieses Bewusstsein für die eigene Vergangenheit sowie die Übernahme der Verantwortung spiegelt sich in den heutigen Werten der Unternehmensführung und in der Förderung durch die Gerhard und Karin Matthäi Stiftung wider. Mit der festen Überzeugung, dass Wissen und Bildung die effektivsten Mittel gegen jede Form von Extremismus sind, setzt sich der Konzern für ein lebenslanges Lernen ein. Die eigene Geschichte fest mit der Unternehmens-DNA verankert, zeigt Matthäi, dass die Erb:innen zwar nicht verantwortlich für die Handlungen früherer Generationen sind, wohl aber für die Gestaltung ihrer Zukunft.
Eine über 170 Jahre andauernde Heldenreise muss zwangsläufig Höhen und Tiefen haben. Der Zweite Weltkrieg ging auch an Siemens nicht spurlos vorbei und sorgte für ein dunkles Kapitel in der Firmengeschichte. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis 1933 erlebte das Unternehmen einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein starkes Wachstum, was hauptsächlich den staatlichen Rüstungsaufträgen geschuldet war. Obwohl Carl Friedrich von Siemens Demokratie schätzte und eine Abneigung gegen die Nazi-Diktatur hatte, passte sich das Werk den damaligen Bedingungen an und entwickelte elektrotechnische Produkte für die Wehrmacht.
Doch mit dem Einzug von qualifizierten Facharbeitern in den Krieg folgte ein enormer Arbeitskräftemangel. Siemens sah sich nicht anders zu helfen und griff ab 1940 zunehmend auf Zwangsarbeiter:innen zurück, um die Produktion weiterhin aufrechterhalten zu können. Über einen Zeitraum von fünf Jahren bis zum Kriegsende 1945 waren mindestens 80.000 zur Arbeit gezwungene Menschen in den deutschen Fertigungsstätten im Einsatz.
Wie geht man als Konzern mit so einer gewaltigen Zahl und so einer Anti-Heldenreise um? Siemens hat auf diese Frage nur eine Antwort: Transparenz. Das Unternehmen nimmt seine Geschichte sehr ernst und steht zu ihr. Ganz offen und direkt.
Dass Siemens in dieser Zeit, in der das Unternehmen in die Kriegswirtschaft des nationalsozialistischen Unrechtsregimes eingebunden war, Menschen gegen ihren Willen hat arbeiten lassen, bedauern die heutige Führungsspitze und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens zutiefst.
Siemens AG
Den klaren Worten lässt der Konzern Taten folgen und übernimmt die Verantwortung. Auf der Unternehmenswebseite veröffentlicht Siemens die ganze Geschichte transparent und für jede:n einsehbar. Mit dem firmeneigenen „Humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter (HHZ)“ und der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sorgt der Konzern zudem für eine monetäre Entschädigung für die Gräueltaten der Vergangenheit. Doch auch die Erinnerung soll nicht in Vergessenheit geraten.
Mit dem Ravensbrück-Projekt pflegt das Unternehmen eine Kultur der Aufarbeitung, die insbesondere auch zukünftigen Generationen ins Bewusstsein rufen soll, wie eng die nationale Geschichte mit der Unternehmensgeschichte verbunden ist. So sind die Auszubildenden von Siemens einmal pro Jahr zu Gast in dem ehemaligen Konzentrationslager der Gedenkstätte Ravensbrück und treten in Dialog mit Zeitzeugen sowie Historiker:innen.
Transparenz erfordert Mut. Doch die Kopf-in-den-Sand-Methode kann nicht die Lösung sein. Eines sollten sich Unternehmen immer bewusst machen: Wir können uns unsere Vergangenheit nicht aussuchen und es ist auch nicht unsere Aufgabe, die Schuld unserer Vorfahren auf uns zu laden. Schlimme Dinge passieren und nicht immer fallen sie in unseren Handlungsspielraum. Aber es liegt an uns zu entscheiden, wie wir mit dem schwierigen Erbe, das wir übernommen haben, umgehen. Die drei Beispiele machen deutlich, dass transparente Offenlegung und Verantwortung übernehmen möglich ist. Es gibt daher nur eine deutliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage, und das ist „Ja“! Jede Geschichte sollte erzählt werden. Wie sie weitergeht, bestimmt die nächste Generation.
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