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Der Mauerfall und meine Familie – 35 Jahre später

Es ist seltsam, in einem Land aufgewachsen zu sein, das es nicht mehr gibt. Es existiert auf keiner Landkarte mehr, nur noch in Erinnerungen und Geschichten. Insbesondere, wenn sie mit der Berliner Mauer zu tun haben. Worüber in der öffentlichen Wahrnehmung gesprochen wird, sind die Heldenreisen von Menschen, die Außerordentliches erlebt haben. Sie haben Fluchtversuche unternommen, teils sogar geschafft, oder sind in den Wochen und Monaten vor dem Mauerfall in Nacht-und-Nebel-Aktionen über die grüne Grenze gegangen oder über Ungarn ausgereist.

Aber natürlich können wir nicht alle Held:innen gewesen sein. Wie die meisten ostdeutschen Familien erinnern wir uns einfach an einen normalen Alltag in der DDR: an Zusammenhalt und gemeinsam Erlebtes. Daran, wie kreativ Menschen werden, wenn es nicht immer alles gibt und man nicht die Welt bereisen und über sie berichten kann. Jede Familie hat ihre eigene DDR- und Wende-Geschichte, meine natürlich auch. 2025 werde ich genau dreimal so viel Zeit in Gesamtdeutschland verbracht haben wie in der DDR. Und es ist interessant zu sehen, wie sich im Rückblick alles verändert hat.

Unsere persönliche, familiäre Heldenreise war, wie die der meisten, nicht historisch bedeutsam. Genau genommen, ist es die Heldenreise meiner Mutter.

Meine Mutter.

Bildrechte: Cleo A. Böhme

Gewohnte Welt: Rückblick

Meine Mutter war 17 Jahre alt, als im August 1961 die Mauer gebaut wurde. Der „antifaschistische Schutzwall“, wie es in der DDR-Sprache hieß. Wie sperrt man Menschen ein und versucht, ihnen ihr Großraumgefängnis schmackhaft zu machen? Man behauptet einfach, dass sie die Guten sind und vor den Bösen geschützt werden müssten: den Faschisten. Kapitalismus gleich Faschismus, so die simple Logik. Und da sich die DDR selbst als antifaschistisch pries, fühlte es sich richtig und wahr an, zu den Guten zu gehören.

Nach der achten Klasse verließ meine Mutter die Schule und lernte in einem Porzellanwerk im sächsischen Colditz den Beruf der Porzellanmalerin. Sie genoss die friedliche Ruhe, die sie verspürte, wenn sie hochkonzentriert Tassen und Teller mit ruhigster Hand mit Mustern versah. Irgendwann wurde sie zu ihrem Vater, der ihr Abteilungsleiter war, zitiert. Er saß zusammen mit innerbetrieblichen Funktionären – und sie sollte dazu überredet werden, in die Partei einzutreten. Die Kurzfassung: Es gelang nicht.

Sie sagte geradeheraus, was sie von der Partei hielt, und dass das keine Option für sie sei und kam damit davon. Nur noch einmal wurde das später versucht, da hatte meine Mutter bereits geheiratet, war nach Berlin-Köpenick gezogen und arbeitete im dortigen Funkwerk. Hier fand sie noch weitaus deutlichere Worte. Sie hat es durchgezogen und ist tatsächlich nie eingetreten.

Skurrilitäten des DDR-Alltags

Ich kam erst 1977 in ihr Leben. Meine Mutter war inzwischen in einen Plattenbau in Lichtenberg gezogen, geschieden und hatte meinen Vater kennengelernt. Wir waren eine sehr normale Familie. Funktionäre kannten wir nicht, aber auch niemanden, der als Dissident galt. Meine Eltern funktionierten und wurden in Ruhe gelassen. Was ich heute zu schätzen weiß, ist, dass ich zu Hause nie angelogen wurde. „Wozu soll ich die Zeitung lesen, wenn darin immer nur steht, in welchen Bereichen der Planwirtschaft das Soll angeblich wieder übererfüllt wurde?“, hörte ich meine Mutter sagen. Ich fand das schlüssig.

Als Wahlen anstanden und ich dachte, das müsse toll sein, wenn man schon groß ist und seiner staatsbürgerlichen Pflicht nachkommen darf, sagte sie auch frei heraus, wie die Dinge lagen. Das Wahllokal war meine damalige Schule, und ich wollte unbedingt mit. Der Dialog mit meiner Mutter lief ungefähr so: „Ich habe keine Lust, da hinzugehen“. Ich: „Dann geh doch nicht.“ Sie: „Doch, ich muss, sonst stehen sie wieder vor der Tür.“ Dass es müßig ist, an einer Wahl teilzunehmen, bei der nur eine Partei zur Auswahl steht, wurde mir direkt erklärt. Warum sonst jemand vor der Tür stehen und wer das sein würde, auch.

Ich weiß, dass in anderen Schulen die Kinder teilweise von den Lehrer:innen gefragt wurden, wie die Uhr vor den Abendnachrichten aussieht, um herauszubekommen, ob zu Hause „Westfernsehen“ geschaut wurde. Das ist mir glücklicherweise nie passiert. Ich besuchte eine Musikschule und sang im Kinderchor des Pionierpalastes. Ich war Jung- und Thälmann-Pionierin und wäre um ein Haar in die FDJ gekommen. So lange hatte ich das herbeigesehnt: Endlich das blaue Hemd tragen wie die (vermeintlich) Großen! Endlich beim Appell „Freundschaft!“ sagen und nicht mehr „Immer bereit!“. Und das hätte auch funktioniert, wenn mir nicht der Mauerfall dazwischengekommen wäre.

Meine Mutter und ich, 1983.

Bildrechte: Cleo A. Böhme

9. November 1989 – Fall ins Ungewisse

Der Fall der Berliner Mauer ereignete sich am 9. November 1989, wie wir alle wissen, und hat sich tief in die Erinnerung eingebrannt. Jede:r Ostdeutsche weiß noch genau, wo er oder sie an diesem Tag war, was sie gerade taten, als sie erfuhren, dass auf einmal alles anders sein würde. Ein wenig vergleichbar mit der Mondlandung, dem Attentat auf John F. Kennedy oder den Anschlägen vom 11. September. Ein weltgeschichtliches Ereignis hatte sich zugetragen, das nicht nur zur Wiedervereinigung führte, sondern auch das Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West bedeutete.

Ich war zwölf, als die Mauer fiel. Ich glaubte, dass sie ein antifaschistischer Schutzwall sei und hatte Angst vor dem „bösen Westen“. Zu jung für den Staatsbürgerkundeunterricht, hatte ich jedoch ab und zu in die Lehrbücher gelinst, die die wesentlich ältere Klasse vor uns im Raum hatte liegen lassen. Das ultimative Sinnbild des Westens darin: das Foto einer West-Berliner Arbeitsagentur mit einer schier endlosen Schlange von arbeitslosen Menschen davor. Da es in der DDR offiziell keine Arbeitslosigkeit gab, war das die schlimmste Situation, die sich mein junges Hirn ausmalen konnte. Keine Arbeit – kein Geld – Obdachlosigkeit, war die logische Reihenfolge dessen, was zwangsläufig geschehen würde.

Ich sah im Fernsehen, dass die Mauer gefallen war und die Menschen zu Tausenden dorthin strömten. Ich nicht, ich weinte. Stundenlang. Mit dem Bild aus dem Lehrbuch im Kopf, war mir nicht ganz klar, was es zu feiern gab. Hatte denn niemand Angst? Um den Schock etwas abzumildern, beschloss meine Mutter Tage später, West-Berlin zusammen mit mir eine Chance zu geben.

Wir fuhren zum Bahnhof Warschauer Straße und kämpften uns inmitten einer Menschenmasse von Hunderten Ost-Berliner:innen zentimeterweise über die Oberbaumbrücke. Es dauerte mehrere Stunden und brachte uns nach Kreuzberg. Dort liefen wir eine Viertelstunde herum und waren, gelinde gesagt, unterwältigt. Ein paar Tage später schlug mein Vater einen zweiten Versuch vor, diesmal übertraten wir die nicht mehr vorhandene Grenze hin zur Sonnenallee, also nach Neukölln. DAS sollte der glorreiche Westen sein? DAFÜR das alles?! Keine hellen Lichter, keine Farben. Es war noch nicht einmal besonders sauber. Und im Prinzip sahen die grauen Altbauten nicht anders aus als die bei uns.

Die Arbeitsstelle meiner Mutter gab es mit dem Mauerfall schlagartig nicht mehr – sie hatte in der Akademie für ärztliche Fortbildung den Hörsaal betreut und Grafiken für die Vorträge der Ärzte angefertigt. Aber sie weigerte sich einfach, Angst zu haben und arbeitslos zu sein. Also fuhr sie jeden Tag zu Unternehmen, von denen sie gehört hatte, sprach mit Verantwortlichen und gab ihre Unterlagen ab. Sie fand eine Stelle in West-Berlin, ganz in der Nähe vom Bahnhof Zoologischer Garten, in der Telefonzentrale einer regierungsnahen Stiftung.

Als man die Stiftung Jahre später auflöste, wurden die Mitarbeitenden auf die inzwischen nach Berlin gezogene Bundestagsverwaltung aufgeteilt, wo meine Mutter dann zehn Jahre lang in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit tätig war. Von einem Porzellanwerk in Sachsen nach Berlin in die Bundestagsverwaltung. Nicht schlecht!

Alexanderplatz, 1983

Bildrechte: Cleo A. Böhme

35 Jahre später: Kein Blick zurück im Zorn

Ich meine nur: Es hätte alles ganz anders kommen können. Die klare Meinung meiner Mutter zur Staatspartei hätte wesentlich weniger gnädig aufgenommen werden können. Der Dicke der Stasi-Akte meines Vaters nach zu urteilen, hätte er unter anderen Vorzeichen auch im Gefängnis enden können. Mein Vater hatte studiert und war aus der Partei ausgetreten. Es hätte sein können, dass ich als vermeintliches Intelligenzler- und NICHT-Arbeiterkind niemals hätte Abitur machen und studieren dürfen. Oder dass ich noch ganz andere Hürden hätte nehmen müssen, weil beide Eltern keine Parteimitglieder waren. Wir werden es nie erfahren.

35 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Ich habe Abitur gemacht. Und ich habe studiert. Ich war zeitweise arbeitslos, und nicht nur einmal. Meine Mutter arbeitete bis zu ihrem Renteneintritt in der Bundestagsverwaltung. Ich habe mit über 40 nochmal eine Berufsausbildung gemacht, die mich zu Mashup geführt hat. Wünschen wir uns zurück in DDR-Zeiten? Nein, nie. Doch jedes Mal, wenn sich der Mauerfall jährt, haben wir viel Spaß damit, uns gegenseitig zu beschreiben, wie unsere Gesichter beim Übertritt nach Kreuzberg aussahen.

Wären wir da, wo wir heute sind, wenn es den Mauerfall nicht gegeben hätte? Sicher nicht. Am 9. November erinnern wir uns daran, dass es auch anders hätte kommen können. Und dann sind wir erst recht nicht wehmütig, sondern sehr, sehr dankbar.

Wenn euch auch die Heldenreisen der anderen Mashies interessieren, könnt ihr zum Beispiel den Blogpost zu Jules Weg trotz Distanz ins Herz des Mashup-Teams lesen.

Cleo Böhme

Immer auf der Suche nach der Tiefe in der Geschichte, mag es Cleo bildhaft und wortgewaltig. Dem germanistischen Spürsinn der Vielleserin entgeht nichts.

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