Scrollytelling: Nüchterne Daten in lebendige Geschichten verwandeln
Scrollytelling, ja richtig gelesen, ist eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen “Scrollen” und “Storytelling”.
Die eher nüchterne Definition lautet: Es handelt sich um eine multimediale Form des Longform-Journalismus. Mithilfe von miteinander verschmelzenden Texten, Bildern, Animationen und Videos entstehen aus Daten und Informationen Geschichten. Je nach Generation tauchen die Lesenden wahlweise mit dem Mausrad am Computer oder dem Daumen am Smartphone in die Website über ein meist datenbasiertes Thema ein. Durch gekonnte Visualisierungen komplexer Sachverhalte und einen roten Faden, werden Zusammenhänge geschickt erläutert und Emotionen hervorgelockt, die einen persönlichen Bezug zur Thematik schaffen und Abstraktes greifbar machen.
Kurz gesagt: Wo bloße Worte den Funken nicht übertragen, lässt Scrollytelling die Aha-Glühbirne leuchten.
Die Voraussetzung für ein gutes Scrollytelling-Erlebnis ist eine gescheite Daten-Grundlage und die Klarheit darüber, welche Kernaussagen transportiert werden sollen. Storytelling-Basics wie die SUCCESs-Formel gelten selbstredend auch für dieses Format. Die Hook muss sitzen, damit die Leserschaft auch wirklich in die Geschichte eintauchen will.
Das Spektrum der erzählten Themen ist dafür beinahe grenzenlos: Von Forschung über Gesellschaftskritik, bis Popkultur lässt sich alles abbilden – solange es eine Message und belastbare Daten gibt. Um nicht nur über Scrollytelling zu lesen, sondern darin einzutauchen, folgen nun ein paar meiner liebsten Beispiele. Sie zeigen, wie vielfältig sich dieses Erzählformat einsetzen lässt: zum Unterhalten, Informieren, Sensibilisieren und Mobilisieren.
1. Unvorstellbarer Reichtum
Eine Million, eine Milliarde? Klingt erstmal beides nach einer sehr großen Zahl beziehungsweise ziemlich viel Geld! Aber wie viel Unterschied die drei Nullen eigentlich ausmachen, ist für die meisten kaum vorstellbar. Deshalb haben Normalverdienende auch häufig keinen Bezug dazu, was es bedeutet, superreich zu sein. Uns fehlt die Relation des Ausmaßes zur eigenen Lebensrealität. Die Zahlen sind schlicht zu abstrakt. Deshalb hat der US-amerikanische Software-Entwickler Matt Korostoff sie greifbar gemacht. Seine Website “Wealth shown to scale” zeigt, wie absurd Reichtum ist, wenn man sich durch ihn durchscrollen muss.
https://mkorostoff.github.io/1-pixel-wealth
2. Wie fahrrad(un)freundlich ist Berlin?
Der Tagesspiegel hat unter dem Titel “radmesser” aufbereitet, wie es in der Hauptstadt um das Fahrrad als Fortbewegungsmittel steht. Wo ist Berlin gut mit Radwegen ausgestattet? Wo lauern Gefahren? Und was stört Radfahrende am meisten? Daten für die Website von 2018 lieferten tausende Umfrageergebnisse, sowie hundert Radmesser aus 99 verschiedenen Postleitzahlen. Die eigens für das Projekt entwickelten Sensoren für die Fahrräder erfassten beispielsweise Daten zu den Abständen, mit denen Autos das jeweilige Rad überholten. Cycle virtuell eine Runde durch Berlin und erlebe die Tücken und Freuden am Radeln.
https://interaktiv.tagesspiegel.de/radmesser/index.html
3. „Nie wieder“: Geschichte lebendig machen
Das Projekt #StolenMemory des Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution macht Vergangenes wieder lebendig. Mit einem video-lastigeren Ansatz als die vorherigen Beispiele, werden die Geschichten verstorbener KZ-Gefangener erzählt. Als Aufhänger dienen Gegenstände, die ihnen bei ihrer Verhaftung entrissen und erst Jahrzehnte später zurück in den Besitz der Familie überbracht wurden. #StolenMemory zeigt das Schicksal von Millionen Menschen auf – anhand ausgewählter, individueller Geschichten. Das betont ihr Menschsein, das ihnen von den Nazis abgesprochen wurde.
4. Der Zeitstrahl aller Ereignisse
Dieses Scrollytelling-Erlebnis hätte ich mir zu Schulzeiten gewünscht: Der Designer Matan Stauber hat alle großen Ereignisse der Erdgeschichte in einem Zeitstrahl chronologisch dargestellt, basierend auf Wikipedia-Einträgen. Wann wurde welcher Krieg gekämpft? In welcher Reihenfolge wurden eigentlich das Telefon, die Eisenbahn und das Radio erfunden? Und wie entwickelten sich die Frauenrechte weltweit über die Zeit? Wer sich auf die anfängliche Überforderung durch die Datenflut einlässt, versteht schnell, wie die Seite funktioniert und frischt mit intuitiven Klicks sein Allgemeinwissen auf.
5. Blick in die Zukunft: Wie der Klimawandel unsere Welt verändert
Nicht nur die Vergangenheit lässt sich mit Scrollytelling in die Gegenwart zurückholen. Auch ein Ausblick in die Zukunft ist dank Datenmodellierung möglich. Die Berliner Morgenpost hat ein ganzes Team für experimentelle Darstellungsformate. Mit Hilfe eines interaktiven Globus zeigen die Journalist:innen, welche Orte der Klimawandel unbewohnbar machen wird. Mit einfach Klicks lässt sich anzeigen, wo es deutlich heißer werden wird, welchen Regionen Wasserknappheit droht und wo auf der Welt es bald unbewohnbar werden könnte und folglich Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen.
https://interaktiv.morgenpost.de/klimawandel-hitze-meeresspiegel-wassermangel-stuerme-unbewohnbar
6. Scrollytelling für Brands
Die Scrollytelling-Erzählweise lässt sich auch für Marken nutzen, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Schuhmarke Kalsø macht es vor und nimmt Interessierte mit auf ihre Reise von 1905 bis 2021. Dabei stellt sie ihr Warum in den Vordergrund, gefolgt vom Wie. Das Was, die Schuhe selbst, erscheinen zunächst nebensächlich. Damit erschaffen sie eine Markenidentität, die fesselt, statt einfach nur Schuhe zu verkaufen.
7. Zielgruppenanalyse The Gen Z Way
Nicht nur einzelne Marken können ihre Geschichte mit Scrollytelling veranschaulichen. Ganze Branchen haben die Möglichkeit ihre Berichte, Analysen und Erkenntnisse interaktiv und ansprechend gestalten. Denn, let’s be honest: Wer liest schon gern seitenlange Texte, gespickt mit Auszügen aus Excel-Tabellen? Eben. Und ohne Publikum wäre die ganze Arbeit ja vertane Mühe. Die Vogue Business macht vor, wie Trendanalysen auch spaßiger funktionieren. Sie hat die Gen Z und ihr Konsumverhalten unter die Lupe genommen und das Ganze zielgruppengerecht aufbereitet. Mit der Hook “Gen Z broke the marketing funnel” macht sie neugierig auf den Mix aus Daten und Zeitgeist.
https://www.voguebusiness.com/story/consumers/gen-z-broke-the-marketing-funnel
Fazit
Scrollytelling hat sich durch meine Recherche womöglich zu einem meiner liebsten Erzählformate gemausert. Wer eine Website in diesem Stil erfolgreich aufsetzen will, braucht Klarheit. Die Kernbotschaften müssen eindeutig sein und der rote Faden sichtbar. Nur so lässt sich die Leserschaft halten. Wer sich nicht intuitiv zurecht findet, wird gehen. Saubere Daten und gute Vorarbeit sind also entscheidend. Vielleicht macht genau das meine Faszination aus: Nur wer ein komplexes Thema einfach darstellen kann, überwindet seinen Fluch des Wissens und begeistert die Massen. Es bleibt kein Platz für leere Phrasen.
Wenn Formate interaktiv gestaltet sind, geben sie außerdem das Gefühl, den Lauf des Erzählstrangs mitbestimmen zu können. Das spricht die Emotionen an und ermöglicht einen viel tieferen Zugang zu scheinbar fremden oder abstrakten Inhalten – und eröffnet somit neue Horizonte.
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12. November 2024