Storytelling = Fiktionen erzählen mit fancy Namen? Nicht auszuschließen, dass in manch einem Unternehmen der Begriff tatsächlich so interpretiert wird. Aber: Storytelling heißt nicht nur Ausgedachtes, im schlimmsten Fall sogar Unwahrheiten zu erzählen. Fakten attraktiv verpackt – gutes Storytelling beruht auf der Wahrheit
Den Begriff Storytelling umweht immer auch etwas Mystisches. Geschichten sind wahrscheinlich so alt wie der Mensch selbst. Schon immer tragen wir Fakten und Erinnerungen in narrativer Form an unsere Nachkommen weiter. Doch das Geschichtenerzählen hat sich nicht nur als Format der Informationssicherung und -übertragung etabliert. Ein wichtiger Aspekt ist seit jeher der hohe Unterhaltungswert guter Plots. Zum Problem wird dies, wenn nicht klar zwischen fiktiven Unterhaltungsgeschichten und wahren, in Storys verpackten Informationen unterschieden werden kann.
In der Medienszene wird beispielsweise daher der sogenannte „narrative Journalismus“, bei dem Ereignisse aus sehr persönlichen und subjektiven Perspektiven erzählt werden, mitunter stark kritisiert. Das hier mitunter Wahrheit und Fiktion vermischt werden, zeigte neuerdings der Skandal um gefälschte Storys vom Redakteur Claas Relotius. Geschichte kam hier vor Wahrheit. Bezahlt haben für diese zweifelhafte Prioritätensetzung am Ende nicht nur die betroffenen Medien, sondern der gesamte Berufsstand der Journalisten mit ihrer Glaubwürdigkeit. In Zeiten, in denen Fake News im Zentrum der Diskussion stehen, ist dies fatal.
Gandalfs Spruch „Jede gute Geschichte ist es wert, ein wenig ausgeschmückt zu werden“ mag auf fiktive Anekdoten zutreffen. Doch nicht nur in der Berichterstattung von Medien, sondern auch im Marketing und der Unternehmenskommunikation sollte man es mit der Trennung von Fakten und Fiktionen nicht zu locker nehmen. Auch hier ist die Diskussion um die Verschmelzung von Wahrheit und Geschichte aktueller denn je. Dass die DMEXCO in diesem Jahr das Thema „Trust“ zum Motto gemacht hat, zeugt von dieser Beobachtung. Wenn Informationen verheimlicht, wichtige Details ausgelassen oder von realen Problemen abgelenkt wird, hört der fröhliche PR-Spaß auf. Unternehmen mit dem löblichen Anspruch, Storytelling-Strategien in ihrer Kommunikation umzusetzen, sollten somit verinnerlichen, dass es dabei niemals um Wahrheitskreation gehen darf. Es ist beim narrativen Marketing nicht das Ziel, eine Gute-Nacht-Geschichte oder ein Märchen aus dem Ärmel zu schütteln. Vielmehr geht es darum, einen Kerngedanken auf anregende Weise zu übermitteln.
Es zeugt von vorausschauendem Handeln, Storytelling und Wahrheit nicht zum Widerspruch zu machen. Die Zielgruppe wird früher oder später merken, wenn Teile einer Geschichte nicht der Wahrheit entsprechen. Selbst wenn man dabei in einem glaubwürdigen Bereich bleibt, tun sich Unternehmen keinen Gefallen, die realen Geschichten übermäßig auszuschmücken. Spätestens wenn aus Interessenten Kunden werden und daraus möglicherweise eine langfristige Zusammenarbeit entsteht, fällt es auf, wie ernst es die Marke mit der Wahrheit genommen hat. Zerschellt das schönste Storytelling dann an der Realität, ist der Vertrauensverlust in die Marke immens. Warren Buffet hat diese simple Erkenntnis in seinem Kommentar zur Dieselbetrugsaffäre in der Automobilindustrie perfekt zusammengefasst: „Es braucht 20 Jahre, um einen guten Ruf aufzubauen, und 5 Minuten, um ihn zu ruinieren.“
Wir sehen: Bei der Vertuschung von zweifelhaften Vorgängen im Unternehmen wird sich die Unwahrheit eines Tages rächen. Doch auch sonst gibt es keinen Grund, die eigene Storytelling-Kommunikation auf einem Lügengerüst zu stützen, auch nicht, um sich durch Geschichten etwas mehr Glanz zu verschaffen, als eigentlich vorhanden sein sollte. Grundsätzlich ist keine Branche und Institution zu komplex oder gar zu langweilig. Spannende, kreative und vor allem auf der Wahrheit beruhende Geschichten lassen sich überall finden.
Die Unternehmenshistorie mit allen Höhen und Tiefen steht häufig am Anfang der Suche. Schließlich gibt es hier fast immer die ein oder andere Anekdote. Und selbst wenn nicht: Es gibt noch unzählige Möglichkeiten mehr. Hat etwa das Firmengebäude einen interessanten geschichtlichen Hintergrund? Welche Ereignisse, vielleicht sogar kurzzeitige Rückschläge gab es bei der Produktentwicklung? Und was hat die Firma daraus gelernt? Lassen sich vielleicht gemeinsame Storys mit Kunden ausfindig machen, wenn etwa die Zusammenarbeit aus einer spannenden Begebenheit oder einem lustigen Zufall resultierte?
Einer der vielversprechendsten Quellen für neue Geschichten bleiben jedoch stets die eigenen Mitarbeiter. Jedes Teammitglied schreibt auf seine Art die große Historie des Unternehmens mit – nicht nur durch die jeweilige Expertise, sondern auch Biografie und Persönlichkeit. Bei der Suche nach den internen Storys ist daher erstmal Zuhören angesagt. Vor dem Storytelling kommt das sogenannte Storylistening. Große Konzerne wie Microsoft oder Zalando beschäftigen eigene Mitarbeiter, deren Aufgabe darin besteht, mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen. Auf diesem Wege finden sie die besten Geschichten im Unternehmen, halten diese fest und machen sie ggf. und im Einverständnis der jeweiligen Mitarbeiter für das Marketing nutzbar.
Storytelling ist kein Ablenkungsmanöver. Weder vor unbequemen Wahrheiten noch vor dem – zumeist ungerechtfertigten – Glauben, im eigenen Unternehmen gäbe es keine Geschichte, die es wert wären, erzählt zu werden. Vielmehr sollte man es als ein Werkzeug begreifen, um beim Publikum Bilder im Kopf entstehen zu lassen, trockene Fakten lebendig und spannend zu machen und frischen Wind ins Marketing zu bringen. Storytelling und Wahrheit sind somit kein Widerspruch. Wahrheit und Glaubwürdigkeit sind erst die Attribute, die eine Geschichte zum Funkeln bringen. Ingeborg Bachmann hatte Recht, als sie feststellte: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.“
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